Vom 3. September an waren Major Débras und Thomas Lieven allabendlich ab 22 Uhr im Spielcasino von Estoril verabredet zwecks Übergabe der ominösen schwarzen Tasche. Zwischen dem 30. August und dem 3. September hoffte Thomas genügend Zeit zu finden, um an ihrem Inhalt gewisse Veränderungen vorzunehmen …
Mit einem gewinnenden Lächeln betrat am Vormittag des 29. August ein elegant gekleideter junger Herr das Büro der privaten amerikanischen Chartergesellschaft »Rainbow Airways« in der Rue de Rome in Marseille. Seinen Homburg lüftend, trat er an den Buchungsschalter und sprach in fließendem Französisch: »Guten Morgen, Monsieur, mein Name ist Leblanc. Ich hole die Flugkarten nach Lissabon für das Ehepaar Lindner und mich.«
»Einen Moment bitte.« Der Angestellte blätterte in seinen Listen. »Ja, hier. Morgen, 15 Uhr 45 …« Er begann die Tickets auszuschreiben.
Vor dem Büro hielt ein kleiner Autobus. Zwei Piloten und eine Stewardeß kamen herein. Ihrem Gespräch entnahm Thomas, daß sie eben gelandet waren und daß sie morgen um 15 Uhr 45 nach Lissabon fliegen würden. Da kam ihm die Erleuchtung.
Die höchstens 25jährige Stewardeß schminkte sich. Sie besaß die Formen einer Rennjacht, schräge Augen, hohe Backenknochen, goldbraunen Teint und wundervolles kastanienbraunes Haar, das ihr in weichen Wellen in die schöne Stirn fiel. Sie wirkte kühl und scheu. Ein Rehlein … Thomas kannte die Gattung. Er wußte genau, was er da vor sich hatte. Wenn so ein wandelnder Eiszapfen zu schmelzen begann, gab es kein Halten mehr.
Dreißig gemütvolle Sekunden widmete Thomas Lieven noch der Erinnerung an seinen Abschied von Mimi, Siméon, Jeanne und ihren Damen in der Rue des Bergères. Alle hatten sie ihn geküßt, auch der Oberst: »Es lebe die Freiheit, mein Kamerad!« Und Jeanne hatte bitterlich losgeschluchzt, als das Taxi anfuhr. Ach, das war mal eine schöne, rührende Familienszene gewesen!
Die dreißig Sekunden waren um. Je nun, dachte Thomas, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!
Das Rehlein schminkte sich noch immer. Das Rehlein ließ den Lippenstift fallen.
Ich handle aus edlen Motiven, bestätigte sich Thomas Lieven zum Zweck der ethischen Untermauerung dessen, was er vorhatte. Dann hob er den Lippenstift auf und reichte ihn dem scheuen Reh mit den braunen Augen, in denen goldene Funken leuchteten.
»Vielen Dank«, sprach das Rehlein.
»Können wir gehen?« erkundigte sich Thomas.
»Was soll das heißen?«
»Oder haben Sie hier noch zu tun? Ich warte gern. Ich denke, wir gehen zuerst ins ›Grand Hôtel‹, da wohne ich, und nehmen einen Apéritif. Essen werden wir dann wohl am besten bei ›Guido‹ in der Rue de la Paix. Und nach dem Essen wollen wir baden.«
»Erlauben Sie mal …«
»Nicht baden? Bitte, bleiben wir im Hotel und ruhen wir uns aus.«
»So etwas habe ich noch nicht erlebt!«
»Mein Fräulein, ich will mir alle Mühe geben zu erreichen, daß Sie das morgen auch noch sagen!« Thomas zog die geliebte Repetieruhr aus der Westentasche und ließ sie schlagen. Elf Schläge und zwei erklangen glockenrein und mild.
»Halb zwölf. Ich sehe, ich mache Sie nervös. Es ist mir bewußt, daß ich eine sehr starke Wirkung auf Frauen ausübe. Voilà, ich warte auf Sie in der Bar des ›Grand Hôtel‹. Sagen wir um zwölf?«
Das Rehlein warf den Kopf zurück und stelzte davon. Die hohen Absätze hämmerten empört auf dem Steinboden.
Thomas ging ins »Grand Hôtel«, setzte sich in die Bar und bestellte Whisky. Das Rehlein kam drei Minuten nach zwölf. Es brachte einen Badeanzug mit.
10
Neben dem rundlichen Ehepaar Lindner marschierte Thomas Lieven – grauer Flanellanzug, weißes Hemd, blaue Krawatte, schwarze Schuhe, Homburg, Regenschirm – in der Gruppe der anderen Passagiere über das Rollfeld auf die wartende Maschine zu. Er sah zufrieden, wenn auch übernächtigt aus.
Auf der Höhe der herangerollten Treppe, im Eingang zur Kabine, stand Mabel Hastings, die Stewardeß. Sie sah zufrieden, wenn auch übernächtigt aus.
»Hallo«, sagte Thomas, als er die Treppe emporkam.
»Hallo«, sagte Mabel. Die goldenen Funken in ihren schönen Augen glitzerten.
So etwas wie Thomas Lieven hatte sie tatsächlich noch nie erlebt. Nach dem Mittagessen bei »Guido« waren sie dann doch nicht schwimmen gegangen, sondern hatten sich im Hotel – sie wohnten zufälligerweise im selben – ausgeruht.
Als er Mabel Hastings am Morgen des 30. August ihren Koffer packen half, erwies sie ihm, allerdings ohne es zu ahnen, noch einen weiteren Gefallen, der innig mit einer schwarzen Tasche zusammenhing …
Die Maschine rollte am Flughafengebäude vorbei zum Start. Thomas sah aus dem Kabinenfenster auf den kurzgeschnittenen Rasen und eine große Schafherde hinaus, die friedlich graste. Schafe bringen Glück, dachte er. Dann sah er ein Auto, das vor dem Flughafengebäude hielt. Aus dem Wagen sprang ein Mann. Er trug einen blauen, zerdrückten Anzug und einen gelben, zerdrückten Regenmantel. Das Gesicht des Mannes glänzte vor Schweiß. Er winkte mit beiden Armen.
Thomas dachte mitleidig: Das ist aber Pech. Gleich wird die Maschine starten, und der arme Kerl hat das Nachsehen.
Tatsächlich ließ der Pilot die beiden Motoren eben noch einmal auf vollen Touren laufen – letzte Kontrolle vor dem Start.
Eine eisige Hand strich über Thomas Lievens Rücken: Der winkende Mann dort drüben am Flughafengebäude … Das Gesicht – das kannte er doch – hatte er doch schon einmal gesehen …
Und plötzlich wußte Thomas Lieven, wo er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte: im Gestapo-Hauptquartier zu Köln! Major Loos hieß der Mann da drüben, Offizier der Deutschen Abwehr! Kombiniere, dachte Thomas Lieven, sie sind hinter mir her. Ach, aber es scheint einen lieben Gott zu geben! Major Loos wird mit mir jetzt gleich zum zweitenmal das Nachsehen haben. Denn in den nächsten fünf Sekunden wird unsere Maschine starten, und dann …
Die Maschine startete nicht. Das Gedröhne der voll laufenden Motoren verstummte. Auf flog die Tür zur Pilotenkabine. Die kühle Mabel Hastings erschien und sprach mit Samtstimme: »Meine Damen und Herren, es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Wir wurden soeben über Funk davon verständigt, daß ein verspäteter Passagier eingetroffen ist, der unter allen Umständen unsere Maschine erreichen muß. Wir nehmen ihn auf und rollen in wenigen Minuten noch einmal zum Start.«
Wenig später kam Major Fritz Loos an Bord, entschuldigte sich in englischer Sprache bei den Passagieren für das Ungemach, das er ihnen bereitet hatte, und verneigte sich gemessen vor Thomas Lieven. Der sah durch ihn hindurch, als wäre der Major aus Glas …
11
Lissabon! Schmaler Balkon der Freiheit und des Friedens in einem mehr und mehr von Krieg und Barbarei verwüsteten Europa.
Lissabon!
Phantastisches Paradies des Reichtums, der Fülle, Schönheit und Eleganz inmitten einer Welt voll Not und Elend.
Lissabon!
Eldorado der Geheimdienste, Schauplatz ungeheuerlicher und ungeheuer lächerlicher Intrigen.
Vom Augenblick seiner Landung an war Thomas Lieven bereits tief in sie verstrickt. Verfolgt und beäugt von dem erschöpften Major Loos – er war während des Fluges sogar eingeschlafen, mit offenem Mund, leise röchelnd –, wurde Thomas Lieven sogleich einer auffällig genauen Zollkontrolle unterzogen. Bis auf die Haut entkleidete man ihn, durchwühlte sein Gepäck, stöberte in allen seinen Taschen. Der portugiesische Sicherheitsdienst schien einen kleinen Hinweis bekommen zu haben.
Aber seltsamerweise fanden sich weder sein beachtliches Dollarvermögen noch die gewisse schwarze Tasche in Thomas Lievens Besitz. Mit förmlicher Höflichkeit entließen ihn die Zöllner. Das Ehepaar Lindner war längst ins Hotel vorausgefahren.
Thomas marschierte zum Paßschalter. Major Loos marschierte hinterher. Thomas marschierte zu der Taxireihe am Flughafen. Major Loos marschierte hinterher. Noch immer war kein Wort zwischen ihnen gefallen.