Thomas Lieven war der jüngste Privatbankier Londons – aber ein erfolgreicher. Solcherlei Blitzkarriere verdankte er seiner Intelligenz, seiner Fähigkeit, seriös zu wirken, und seiner Begabung, nebeneinander zwei vollkommen verschiedene Leben zu führen. Von äußerster Korrektheit war Thomas Lieven an der Börse. Abseits dieser heiligen Hallen aber war er einer der charmantesten Ladykiller. Niemand, am wenigsten die jeweils direkt Betroffenen, ahnte auch nur, daß er in ausgeruhten Perioden spielend bis zu vier Freundinnen gleichzeitig bewältigte, denn er war ebenso rüstig wie verschwiegen.
Thomas Lieven konnte steifer sein als der steifste Gentleman der City – aber einmal die Woche schwang er heimlich im lautesten Club von Soho das Tanzbein, und zweimal die Woche nahm er heimlich Jiu-Jitsu-Unterricht.
Thomas Lieven liebte das Leben, und das Leben schien ihn zu lieben. Alles fiel ihm in den Schoß, wenn er nur geschickt verbarg, wie jung er noch war … Robert E. Marlock, sein Seniorpartner, stand im Schalterraum der Bank, als Thomas Lieven hereinkam und würdevoll die Melone lüpfte.
Marlock war fünfzehn Jahre älter, groß und hager. Auf eine nicht eben sympathische Weise wichen seine wasserhellen Augen jedem, der sie betrachten wollte, aus.
»Hallo«, sagte er und sah gewohnheitsmäßig an Thomas vorbei.
»Guten Morgen, Marlock«, sagte Thomas ernst. »Guten Morgen, meine Herren!«
Die sechs Angestellten hinter ihren Schreibtischen grüßten ernst wie er.
Marlock stand neben einer Metallsäule, die eine gläserne Käseglocke trug. Darunter tickte ein kleiner Messingtelegraf, der auf schmalen, schier endlosen Papierstreifen die neuesten Börsenkurse mitteilte.
Thomas trat neben seinen Partner und sah sich die Notierungen an. Marlocks Hände zitterten ein wenig. Mißtrauischerweise hätte man sagen können, daß es typische Falschspielerhände waren. Doch Mißtrauen wohnte vorerst nicht in Thomas Lievens heiterer Seele. Nervös fragte Marlock: »Wann fliegen Sie nach Brüssel?«
»Heute abend.«
»Höchste Zeit. Sehen Sie mal, wie die Werte rutschen! Folge von dem verfluchten Nazi-Stahlpakt! Schon Zeitungen gelesen, Lieven?«
»Gewiß«, sagte Thomas. Er sagte mit Vorliebe »gewiß«; es klang würdiger als »ja«.
Die Zeitungen hatten am Morgen dieses 24. Mai 1939 den Abschluß eines Bündnisvertrages zwischen Deutschland und Italien gemeldet. Selbiges Bündnis wurde »Stahlpakt« genannt.
Durch den dunklen, altmodischen Schalterraum schritt Thomas in sein dunkles, altmodisches Privatbüro. Der hagere Marlock folgte ihm und ließ sich in einen der Lederfauteuils sinken, die vor dem hohen Schreibtisch standen.
Zunächst besprachen die beiden Herren, welche Papiere Thomas auf dem Kontinent aufkaufen und welche er abstoßen sollte. »Marlock & Lieven« besaßen eine Zweigstelle in Brüssel. Thomas Lieven war zudem noch an einer Privatbank in Paris beteiligt. Nachdem die Herren das Geschäftliche erledigt hatten, brach Robert E. Marlock mit jahrelangen Gewohnheiten: Er sah seinem Juniorpartner offen in die Augen. »Hm, Lieven, ich habe da noch eine ganz private Bitte. Sie erinnern sich gewiß an Lucie …«
Thomas erinnerte sich gut an Lucie. Das schöne blonde Mädchen aus Köln hatte jahrelang als Marlocks Freundin in London gelebt. Dann mußte etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein – niemand wußte genau zu sagen, was –, denn von einem Tag zum anderen war Lucie Brenner nach Deutschland zurückgekehrt.
»Scheußlich von mir, Sie damit zu belästigen, Lieven«, klagte Marlock jetzt, dem Jüngeren, mit Anstrengung zwar, aber doch immer noch direkt in die Augen blickend. »Ich dachte bloß, wenn Sie schon in Brüssel sind, könnten Sie vielleicht schnell den Sprung nach Köln hinüber machen und mit Lucie reden.«
»Nach Köln? Warum fahren Sie nicht selber? Sie sind doch ebenfalls Deutscher …«
Marlock sprach: »Ich würde sehr gern nach Deutschland fahren, aber die internationale Lage … Zudem, ich habe Lucie damals sehr verletzt, ich bin ganz ehrlich …« – Marlock sagte gern und oft, daß er ganz ehrlich sei – »… ganz ehrlich, ja. Da war eine andere Frau. Lucie hatte jedes Recht, mich zu verlassen. Sagen Sie ihr, ich bitte sie um Verzeihung. Ich will alles gutmachen. Sie soll zurückkommen …«
In seiner Stimme schwang nun jene Rührung, die in den Stimmen der Politiker schwingt, wenn sie von ihrer Sehnsucht nach Frieden sprechen.
2
Am Morgen des 26. Mai 1939 traf Thomas Lieven in Köln ein. Vom »Dom-Hotel« wehten große Hakenkreuzfahnen. Überall in der Stadt wehten Hakenkreuzfahnen. Der »Stahlpakt« wurde gefeiert. Thomas sah viele Uniformen. Auf den Teppichen der Hotelhalle knallten Stiefel aneinander wie Schüsse.
Im Zimmer stand ein Bild des »Führers« auf dem Schreibtisch. Thomas lehnte seinen Rückflugschein daran. Er nahm ein heißes Bad. Dann kleidete er sich um und rief Lucie Brenner an.
Als der Hörer am andern Ende der Leitung abgehoben wurde, ertönte ein verdächtiges Knacken, das Thomas Lieven jedoch entging. Dem Superagenten von 1940 war im Jahr 1939 die Existenz von Abhörgeräten noch völlig unbekannt.
»Brenner!«
Da war sie wieder, die verrauchte, aufregend heisere Stimme, an die er sich noch so gut erinnerte.
»Fräulein Brenner, hier spricht Lieven. Thomas Lieven. Ich bin gerade in Köln angekommen und …« Er unterbrach sich. Er hatte zwar nicht das neuerliche Knacken in der Leitung, wohl aber ihren unterdrückten Aufschrei wahrgenommen.
Charmant lächelnd fragte er. »War das ein Freudenschrei?«
»O Gott«, hörte er sie sagen.
Knack, machte es wieder.
»Fräulein Brenner, Marlock bat mich, Sie zu besuchen …«
»Der Schuft!«
»Aber nicht doch …«
»Der elende Schuft!«
»Fräulein Brenner, so hören Sie doch! Marlock will Sie durch mich um Verzeihung bitten. Darf ich zu Ihnen kommen?«
»Nein!«
»Aber ich habe ihm versprochen …«
»Verschwinden Sie, Herr Lieven! Mit dem nächsten Zug! Sie wissen ja nicht, was hier los ist!« Knack, machte es in der Leitung, ohne daß Thomas Lieven darauf achtete.
»Nein, nein, Fräulein Brenner, Sie sind es, die nicht weiß, was los ist …«
»Herr Lieven …«
»Bleiben Sie daheim, ich bin in zehn Minuten bei Ihnen!« Er legte auf und zog am Knoten seiner Krawatte. Sportlicher Ehrgeiz hatte ihn gepackt.
Ein Taxi brachte Thomas – selbstverständlich mit steifem Hut und peinlich gerolltem Regenschirm – hinaus nach Lindenthal. Hier wohnte Lucie Brenner im zweiten Stock einer Villa am Beethovenpark.
Er klingelte an der Wohnungstür. Von jenseits erklang dumpfes Geflüster. Mädchenstimme, Männerstimme. Thomas wunderte sich, aber nur ganz wenig. Denn Mißtrauen wohnte vorerst nicht in seiner heiteren Seele.
Die Tür ging auf. Lucie Brenner wurde sichtbar. Sie trug einen Morgenrock und anscheinend wenig darunter. Sie war außerordentlich erregt. Als sie Thomas erkannte, ächzte sie: »Wahnsinniger!«
Danach ging alles sehr schnell.
Zwei Männer wurden hinter Lucie sichtbar. Sie trugen Ledermäntel und sahen aus wie Schlächter. Der eine Schlächter stieß Lucie grob beiseite, der andere Schlächter packte Thomas am Revers.
Vergessen waren Selbstbeherrschung, Ruhe und Zurückhaltung! Mit beiden Händen packte Thomas die Schlächterfaust und drehte sich in einer tänzerisch anmutigen Bewegung. Plötzlich hing der Schlächter höchst verblüfft über Thomas Lievens rechter Hüfte. Eine kleine, ruckartige Verbeugung vollführte unser Freund. Ein Gelenk knackte. Der Schlächter schrie gellend auf, flog sausend durch die Luft und landete krachend auf dem Dielenboden. Hier blieb er schmerzverkrümmt liegen. Mein Jiu-Jitsu-Unterricht macht sich bezahlt, dachte Thomas.
»Und nun zu Ihnen«, sprach er, auf den zweiten Schlächter zutretend.
Die blonde Lucie begann zu kreischen. Der zweite Schlächter wich zurück und stotterte: »N-nicht d-doch, Herr. Machen Sie nicht solche Sachen …« Er holte einen Revolver aus seinem Schulterhalfter hervor. »Ich warne Sie. Seien Sie vernünftig.«