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»Audra? Liebling?«

Keine Antwort. Er verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, ihr Gesicht zu sehen, schaffte es aber nicht. Nur ihre Hände umfaßten seine Taille, und auf den Nägeln waren noch Reste des abblätternden roten Nagellacks

zu erkennen, den eine schöne, kluge, lebhafte und begabte junge Frau in einer englischen Kleinstadt aufgetragen hatte.

»Wir machen eine kleine Spazierfahrt«, sagte Bill, ließ Silver auf die Palmer Lane zu rollen und lauschte dem Knirschen des Kieses unter den Reifen. »Ich möchte, daß du dich gut festhältst, Audra. Ich werde vielleicht... vielleicht ziemlich sch-sch-schnell fahren.«

Wenn ich nicht im letzten Augenblick kneife.

Er dachte an den Jungen, den er während seines Aufenthalts in Derry getroffen hatte, anfangs, als Es - was immer das auch gewesen sein mochte -noch hier vorging. Bill hatte dem Jungen geraten, vorsichtig zu sein. Auf einem Skateboard kann man nicht vorsichtig sein, hatte der Junge entgegnet.

Wahrere Worte wurden nie gesprochen, Junge.

»Audra? Bist du bereit?«

Keine Antwort. Hatten ihre Hände ein ganz klein wenig fester zugegriffen? Vermutlich war das jedoch nur sein Wunschdenken.

Er erreichte das Ende der Auffahrt und blickte nach rechts. Die Palmer Lane führte direkt zur Upper Main Street, und wenn er nach links abbog, würde er zum Hügel kommen, der in die Innenstadt hinabführte. Den Hügel hinab. Immer schneller. Ein Schauder überlief ihn bei dieser Vorstellung, und ein beunruhigender Gedanke

(alte Knochen brechen leicht, Billy-Boy)

schoß ihm flüchtig durch den Kopf. Aber...

Aber außer der Unruhe und Sorge war da doch noch etwas anderes, oder? O ja. Da war auch das Verlangen... jenes Gefühl, das er gehabt hatte, als er den Jungen mit seinem Skateboard gesehen hatte. Der Wunsch, das Verlangen, sich schnell vorwärtszubewegen, den Wind an sich vorbeisausen zu spüren, ohne zu wissen, ob man auf ihn zusauste oder vor ihm floh, einfach dahinzusausen.

Besorgnis und Verlangen. Zwischen diesen beiden lagen Welten - einerseits der Erwachsene, der über alle Risiken nachdenkt, andererseits das Kind, das sich einfach aufs Rad setzt und losfährt, um nur ein Beispiel zu nennen. Und doch war der Unterschied auch wieder nicht so groß, waren die beiden im Prinzip doch Bettgefährten. Jenes Gefühl, wenn der Wagen der Berg- und Talbahn sich dem Gipfel des ersten steilen Hügels nähert, wo die Fahrt erst so richtig beginnt.

Besorgnis und Verlangen. Was man sich wünscht, und was zu versuchen man sich dann doch fürchtet. Wo man herkommt und wo man hin möchte.

Bill schloß einen Augenblick lang die Augen, spürte das Gewicht seiner Frau hinter sich auf dem Gepäckträger, spürte den Hügel, der irgendwo vor ihm lag, spürte sein Herz in der Brust.

Sei tapfer, sei treu, sei standhaft...

»Ja«, sagte er und begann Silver wieder vorwärts zu treiben. »Bist du bereit, Audra?«

Keine Antwort. Aber das machte nichts. Er war bereit.

»Halt dich gut fest.«

Er begann in die Pedale zu treten. Zuerst fiel es ihm sehr schwer. Silver schwankte bedenklich hin und her, und Audras Gewicht machte es noch schwerer, das Gleichgewicht zu halten. Bill stand auf den Pedalen und umklammerte die Lenkstange, den Kopf himmelwärts gerichtet, mit hervortretenden Halsmuskeln, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen.

Gleich haut's das Rad um, und wir brechen uns beide das Genick...

(nein, nein, das passiert schon nicht, fahr zu, Bill, fahr zu, fahr zu, du Feigling)

Er trat in die Pedale, und jede Zigarette, die er in den vergangenen zwanzig Jahren geraucht hatte, machte sich an seinem erhöhten Blutdruck und seinem laut pochenden Herzen bemerkbar. Scheiß drauf! dachte er, und die verrückte Hochstimmung, die diesen Gedanken begleitete, brachte ihn zum Grinsen.

Die Spielkarten, die bisher nur einzelne Schüsse abgegeben hatten, knatterten nun schneller. Bill spürte die erste Brise an seinem kahlen Schädel und grinste noch breiter. Ich habe diese Brise erzeugt, dachte er. Ich habe sie erzeugt, indem ich in diese verdammten Pedale trat.

Das Halteschild am Ende der Palmer Lane kam in Sicht. Bill begann automatisch abzubremsen... und dann (sein Grinsen wurde immer noch breiter und entblößte jetzt seine Zähne) trat er statt dessen nur noch schneller in die Pedale.

Ohne das Halteschild zu beachten, bog Bill Denbrough nach links in die Upper Main Street ab. Wieder hatte er Audras Gewicht nicht bedacht, und um ein Haar wäre das Fahrrad umgekippt. Es schwankte wie verrückt hin und her, doch dann kam es wieder ins Gleichgewicht. Die Brise wurde stärker, trocknete den Schweiß auf seiner Stirn, streifte an seinen Ohren vorbei mit einem leisen, berauschenden Klang, ähnlich jenem Rauschen des Meeres, das man in einer Muschel hören kann. Sonst ließ sich nichts mit diesem Geräusch vergleichen, und nicht einmal der Vergleich mit der Muschel war sehr treffend. Bill vermutete, daß der Junge mit dem Skateboard dieses herrliche Geräusch sehr gut kannte. Aber das wird nicht immer so sein, Junge, dachte er. Die Dinge ändern sich. Das ist ein gemeiner Trick, also bereite dich lieber schon jetzt daraufvor.

Er fuhr jetzt schneller und konnte dadurch besser das Gleichgewicht halten. Paul Bunyan links von ihm, seine Axt auf der Schulter, grinsend. Und plötzlich hörte Bill sich rufen: »Hi-yo, Silver. Los!«

Audras Griff um seine Taille wurde etwas fester; er spürte, daß sie sich an seinem Rücken etwas bewegte.

Aber jetzt hatte er nicht mehr das Bedürfnis, sich umzudrehen und zu versuchen, sie zu sehen... es war nicht notwendig. Er trat noch schneller in die Pedale und lachte laut auf, ein großer, magerer, kahlköpfiger Mann, der sich tief über die Lenkstange seines Fahrrads beugte, um den Luftwiderstand möglichst niedrig zu halten. Leute drehten sich nach ihm um, als er so an der Statue von Paul Bunyan und am Bassey-Park vorbeisauste.

Jetzt führte die Upper Main Street ziemlich steil bergab, auf die abgesperrte Stadtmitte zu, und eine innere Stimme flüsterte ihm zu, wenn er jetzt nicht bald abbremste, würde es zu spät sein, er würde einfach in die eingesunkenen Überreste der großen Kreuzung hineinsausen und sich und Audra umbringen.

Bill beschloß, diese Stimme zu ignorieren; jetzt sollte nur das Verlangen regieren - es sollte immer regieren!

Er trat wieder in die Pedale, zwang Silver, noch schneller zu fahren. Er flog jetzt den Main Street Hill hinab, und er konnte schon die weißorangefarbene Absperrung sehen, er konnte die Dächer und oberen Stockwerke von Häusern aus den eingebrochenen Straßen herausragen sehen, so als wären sie der Fantasie eines hoffnungslos Verrückten entsprungen.

»Hi-yo, Silver, Loooos!« brüllte Bill Denbrough jubelnd, und er brauste den Hügel hinab und war sich zum letzten Male deutlich bewußt, daß Derry seine Stadt war, daß gewisse Bande unverbrüchlich waren, daß es Güte und Mut und Angst und Schrecken gibt; hauptsächlich war er sich aber deutlich bewußt, daß er unter einem realen Himmel lebendig war, und daß Verlangen alles, alles, alles war.

Er sauste auf Silver den Hügel hinab. Er sauste hügelabwärts, um den Teufel zu schlagen.

6

Du verläßt also Derry, und du hast das Bedürfnis, dich noch einmal umzudrehen, denkt er. Nur noch einmal zurückzublicken, während die Sonne untergeht, ein letztes Mal diese strenge Skyline Neuenglands zu sehen - die Kirchtürme, den Wasserturm, Paul mit seiner Axt über der Schulter. Aber vielleicht ist es doch keine so gute Idee zurückzublicken - das kann man in allen Geschichten nachlesen. Lots Frau wurde dafür in eine Salzsäule verwandelt. Lieber doch nicht zurückschauen. Lieber einfach glauben, daß es glücklicherweise auch jede Menge Happy-Ends gibt - und stimmt das etwa nicht? Wer könnte behaupten, daß es so etwas nicht gibt? Nicht alle Boote, die in die Dunkelheit hinaussegeln, sehen die Sonne niemals wieder, finden niemals mehr die Hand eines anderen Kindes; wenn das Leben uns überhaupt etwas lehrt, so lehrt es uns, daß es soviel Happy-Ends gibt, daß ein Mensch, der nicht an die Existenz Gottes glaubt, auf seinen Geisteszustand untersucht werden müßte, weil erhebliche Zweifel an seinem Verstand bestehen.