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Um zu wissen, wie ein Ort ist, muß man wissen, wie er war - davon bin ich überzeugt. Und wenn ich angeben müßte, wann dies alles für mich wieder begonnen hat, so würde ich sagen, es war jener Frühlingstag 1980, als ich Albert Carson aufsuchte - er ist letzten Sommer mit 91 Jahren gestorben. Er war der Leiter der hiesigen Bücherei von 1914 bis 1960 - eine unglaubliche Zeitspanne (aber er war auch ein unglaublicher Mann), und ich glaubte, wenn überhaupt jemand mir würde sagen können, welches das beste Geschichtsbuch über diese Gegend ist, so Albert Carson. Ich stellte ihm also meine Frage, und er gab mir seine Antwort mit heiserer, krächzender Stimme - er hatte Kehlkopfkrebs, dem er dann schließlich auch erlag.

»Sie taugen alle einen Dreck«, sagte er. »Wie Sie selbst verdammt gut wissen.«

»Womit soll ich dann Ihrer Meinung nach den Anfang machen?« fragte ich.

»Fangen Sie mit den Büchern von Fricke und Michaud an«, krächzte er. »Werfen Sie sie in den Papierkorb. Dann lesen Sie Bullinger. Branson Bul-linger war ein verdammt schlampiger Forscher und ein verdammter Weichling in Geschäftsdingen, aber wenn es um Derry ging, hatte er das Herz auf dem rechten Fleck. Er hat fast alles falsch gemacht, aber er hat es mit Gefühl falsch gemacht.«

Ich lachte ein wenig, und Carson verzog seine rissigen, ledrigen Lippen zu einem Grinsen - ein etwas beängstigender Ausdruck guter Laune. Er sah wie ein Geier aus, der zufrieden ein soeben getötetes Tier bewacht und darauf wartet, daß es genau das richtige Stadium wohlschmeckender Verwesung erreicht.

»Dann machen Sie mit dem Geschichtsbuch von Ives weiter«, sagte er. »Machen Sie sich eine Liste von allen Leuten, mit denen er gesprochen hat. Sandy Ives lehrt noch an der University of Maine. Suchen Sie ihn auf. Laden Sie ihn zum Abendessen ein. Fragen Sie ihn aus. Notieren Sie sich Adressen. Reden Sie mit den Alteingesessenen, mit denen er geredet hat. Dann werden Sie zumindest einen Anhaltspunkt haben. Sie werden eine Menge herausfinden, wenn Sie genügend Leute aufspüren, Mike. Eine Menge davon wird Ihnen vielleicht den Schlaf rauben.«

»Derry«, sagte ich. »Mit Derry... mit Derry stimmt etwas nicht, oder?«

»Stimmt etwas nicht?« fragte er in jenem krächzenden Flüstern. »Was heißt >stimmt etwas nicht<? Was bedeutet dieser Ausdruck? Was verstehen Sie darunter, Mike? Oder genauer gesagt, was verstehen Sie überhaupt unter >stimmen<?«

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Entweder er wußte es, oder er wußte es nicht. Ich glaubte, er wisse es; und das glaube ich auch heute noch.

»Oh, es gab unerfreuliche Ereignisse«, sagte er. »Die Geschichte einer Stadt hat Ähnlichkeit mit einem großen alten Herrensitz - viele Säle und kleine Zimmerchen und Waschküchen und Türmchen und Kellergewölbe ... und ein-zwei Geheimgänge. Ist es das, was Sie meinen? Sie werden sie finden, Mike, wenn Sie danach suchen. O ja. Vielleicht wird es Ihnen hinterher leid tun, aber Sie werden sie finden.« Und seine Augen funkelten mich mit all der Schläue eines alten Mannes an. »Oder vielleicht haben Sie sie auch schon gefunden. Vielleicht glauben Sie sogar, schon auf das Schlimmste gestoßen zu sein... aber Sie könnten herausfinden, daß Sie sich geirrt haben.«

»Was...«

»Und jetzt werden Sie mich entschuldigen müssen, Mike. Meine Kehle tut heute sehr weh, und es ist Zeit für meine Medizin und mein Nickerchen.«

Mit anderen Worten, hier hast du das Brett, mein Freund, nun sieh mal zu, was für ein Spiel du darauf spielen kannst.

Ich begann, wie Carson mir geraten hatte, mit den Geschichtsbüchern von Fricke und Michaud. Sie waren genauso schlecht, wie er gesagt hatte. Lloyd Doddsworth Fricke war der Abkömmling einer alteingesessenen Familie reicher Holzhändler, ein Polospieler und Schreiberling mit literarischen Ambitionen. Das Buch war ein Privatdruck, und der Grund dafür wurde mir rasch klar. Bürgermeister Gagnon wurde darin als >wahrer Merkur der Politik< bezeichnet, General Sullivan, der in Gettysburg geholfen hatte, Picketts Mannen zurückzuschlagen, war >die wahre Inkarnation von Mars auf dem Pferderücken, und sein Schwert funkelte in der Sonne wie das des Damokles<; und Alan Baxter, der 1956 (vier Jahre, bevor das Buch erschien) bei >The Sixty-Four Thousand Dollar Question< 24000 Dollar gewann, war >ein wahrer dreiköpfiger Zerberus des Intellekts<.

Das 1924 in Bangor erschienene Geschichtsbuch von Michaud war ein bißchen spannender, aber ebenfalls sehr ungenau. Gemäß dem Autor, Grover Michaud, wurde die ursprüngliche Schar von Siedlern in jener Gegend, wo heute Derry steht, von >einer Horde betrunkener rasender Irokesen ausnahmslos alle massakriert, bis hin zur letzten Frau und zum letzten Kind<. Natürlich hat es in Maine nie Irokesen gegeben, und - soviel ich weiß - hat es in Zentralmaine überhaupt nie ein von Indianern angerichtetes Massaker gegeben. Das tatsächliche Schicksal der ersten Siedler war viel seltsamer...

Ich las das Werk von Bullinger, widmete speziell seinen Fußnoten viel Aufmerksamkeit und Zeit und jagte jedem kleinsten Hinweis nach: Die Ergebnisse waren aber letztlich ziemlich mager.

Interessanter und fruchtbarer waren meine Unterhaltungen mit Sandy Ives. Er hatte gar nicht den Ehrgeiz gehabt, eine vollständige Geschichte der Stadt zu schreiben, sondern in den Jahren 1963-1966 eine Artikelserie über Derry veröffentlicht, wobei er sehr viele mündliche Quellen auswertete. Die meisten der alteingesessenen Einwohner, mit denen er gesprochen hatte, waren schon tot, als ich mit meinen Nachforschungen begann. Aber sie hatten Söhne, Töchter, Neffen, Cousins. Ich fuhr 1980 und Anfang 1981 eine Menge in der Gegend herum und unterhielt mich mit vielen von ihnen. Ich saß auf Veranden, ich trank heißen Tee, Eistee, Narragansett-Bier, selbstgebrautes Bier, Leitungswasser und Quellwasser. Ich hörte aufmerksam zu, und mein Kassettenrecorder lief.

Bullinger und Ives stimmten in einem Punkt überein: die erste Schar von 300 Siedlern ließ sich auf einer Fläche nieder, die heute Derry, den größten Teil Newports und kleine Stückchen im Nordwesten an Newport grenzender Städte umfaßt. Alle diese Siedler verschwanden im Jahre 1741 einfach. Im Juni jenes Jahres waren sie noch da, im Oktober nicht mehr. Das kleine Dorf mit seinen Holzhütten war völlig menschenleer. Eine der Hütten, die etwa an der Stelle der heutigen Kreuzung Witcham Street und Jackson Street stand, war bis auf den Grund niedergebrannt. Vielleicht war das der Ursprung von Michauds farbiger Geschichte eines Indianermassakers. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, daß der Ofen in dieser Hütte zu heiß wurde und sie in Flammen aufging, als, was immer auch damals geschehen sein mag, geschah.

Sie verschwanden einfach. Alle. Alle dreihundert Personen.

Soviel ich weiß, ist der einzige vergleichbare Fall in der amerikanischen Geschichte das Verschwinden der Siedler auf Roanoke Island in Virginia. Jedes Schuldkind im Lande weiß darüber Bescheid; aber wer weiß außerhalb von Maine etwas über Derry?

Dreihundert Personen. Alle auf einmal verschwunden. Und auch das Jahr, in welchem das geschah, paßt ins Schema hinein.

Oh, ich habe vielen Leuten zugehört, auf Veranden und im kühlen Schatten von Holzschuppen. Ein alter Mann erzählte mir, daß seine Frau in den drei Wochen vor dem Tod ihrer Tochter - das war im Frühwinter 1957, das Mädchen war eines der damaligen Mordopfer - aus dem Ablauf ihrer Küchenspüle Stimmen gehört hatte. »Ein richtiges Stimmengewirr«, erzählte er mir. »Und obwohl sie Angst hatte, hat sie einmal geantwortet. Sie hat sich dicht über den Ablauf gebeugt und hinuntergerufen: >Wie heißt ihr?< Und sie erzählte mir, all diese Stimmen hätten ihr geantwortet - grunzend und lallend, heulend und jaulend, schreiend und lachend. Und meine Frau sagte, sie hätten gerufen, was der Besessene zu Jesus sagte: >Legion, denn wir sind viele. < Meine Frau ging danach ein Jahr lang nicht mehr in die Nähe dieser verdammten Spüle. Und ich mußte den ganzen verfluchten Abwasch machen.«