1958 verschwanden 127 Kinder im Alter von drei bis 19 Jahren. Gab es 1958 auch eine Depression, fragte ich Polizeichef Rademacher. Nein, sagte er, aber die Leute ziehen eben sehr oft um, Hanion. Und nicht immer informieren sie die Polizei. Und Kinder laufen nun mal leicht von zu Hause fort. Sie bekommen Krach mit ihren Eltern, weil sie zu spät nach Hause gekommen sind - und schon sind sie auf und davon.
Ich zeigte Rademacher das Foto von Chad Löwe, das im April 1958 in den >Derry News< veröffentlicht worden war. Glauben Sie, daß dieser Junge auch nach einem Krach mit seinen Eltern weggelaufen ist? Er war gerade dreieinhalb Jahre alt, als er verschwand!
Rademacher warf mir einen bösen Blick zu und sagte, es sei zwar sehr nett gewesen, mit mir zu plaudern, er habe aber sehr viel zu tun. Ich ging.
Heimsuchung - unangenehmer Besuch, Plage...
Heimsuchen - in feindlicher Absicht aufsuchen, überfallen...
Heimgesucht werden - von Seuchen, von bösen Geistern...
Das Albrecht-Mädchen. Der Johnson-Junge.
Noch ein Kind, und ich werde anrufen; aber erst, wenn es unbedingt sein muß. In der Zwischenzeit habe ich meine Vermutungen, meinen gestörten Schlaf und meine Erinnerungen. Diese verdammten Erinnerungen ... Und ich habe dieses Notizbuch, das ich benutze wie ein Löwendompteur seine Peitsche und seinen Stuhl. Ich sitze da, und meine Hand zittert so stark, daß ich kaum schreiben kann, ich sitze in der leeren Bücherei, wenn sie geschlossen ist, ich sitze da, lausche auf die leisen Geräusche in den dunklen Bücherregalen und beobachte die Schatten, um sicher zu sein, daß sie sich nicht bewegen, nicht verändern.
Ich sitze neben dem Telefon.
Ich lege meine freie Hand auf den Hörer... berühre die Löcher in der Wählscheibe... dieser Apparat könnte in Windeseile die Verbindung zu meinen alten Freunden herstellen.
Wir sind gemeinsam in die Tiefe gestiegen.
Wir sind gemeinsam in die Dunkelheit hinabgestiegen.
Würden wir aus dieser Dunkelheit wieder herauskommen, wenn wir ein zweites Mal hinabstiegen?
Ich glaube kaum.
Ich bete zu Gott, daß ich sie nicht anrufen muß.
Ich bete zu Gott.
Zweiter Teil JUNI 1958
Viertes Kapitel
Ben Hanscoms Sturz
1
Um 23.45 Uhr bekommt eine der Stewardessen, die auf dem Flug 41 der United Airlines von Omaha nach Chicago in der 1. Klasse Dienst hat, einen furchtbaren Schreck Für etwa 25 Sekunden glaubt sie, daß der Passagier am Fenster, auf Platz 1, gestorben ist.
Als er in Omaha an Bord ging, dachte sie insgeheim: Mit dem wird's Ärger geben. Er ist ja stockbesoffen. Seine Whiskyfahne erinnerte sie an die Staubwolke, die immer den schmutzigen kleinen Jungen in >Peanuts< umgibt - Pig Pen heißt er. Nervös dachte sie an den Getränkeservice kurz nach dem Start - sie war sicher, daß der Mann einen Drink bestellen würde, vermutlich sogar einen doppelten, und dann würde sie sich entscheiden müssen, ob sie seinem Wunsch nachkommen sollte oder nicht. Für diese Route waren Gewitterstürme vorhergesagt worden, und sie war ganz sicher, daß sich der große Mann im Baumwollanzug übergeben würde.
Aber der große schlaksige Mann bestellte ein Soda und lehnte die Nüsse dankend ab, so höflich, wie man es sich nur wünschen konnte. Sein Bedienungslicht leuchtete nicht auf, und nach kurzer Zeit vergaß ihn die Stewardeß völlig, denn sie hatte bei diesem Flug alle Hände voll zu tun - es war einer jener Flüge, die man am liebsten sofort nach der Landung vergessen möchte, einer jener Flüge, bei denen einem unwillkürlich Gedanken ans eigene Überleben durch den Kopf schießen.
Der Mittelwesten wird in dieser Nacht von Gewitterstürmen heimgesucht, und das Flugzeug laviert zwischen ihnen hindurch wie ein guter Skifahrer beim Slalom. Der Wind ist sehr stark, viele Passagiere ängstigen sich beim Anblick der zuckenden Blitze in den Wolken (»Mami, macht Gott Blitzlichtaufnahmen von den Engeln?« fragt ein kleiner Junge, und seine Mutter, die ziemlich grün im Geskht ist, lacht unsicher), die Anzeige >Bitte anschnalkn< erlischt nicht, die Bedienungslichter der Passagiere blinken unaufhörlich.
Das Flugzeug schlingert, jemand schreit leise auf, und die Stewardeß muß sich festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren; dabei dreht sie sich etwas um und blickt direkt in die starren Augen des Mannes auf Platz 1.
O mein Gott, er ist tot, denkt sie. Der viele Alkohol und dann dieser unruhige Flug... sein Herz... ihn hat bestimmt der Schlag getroffen.
Die Augen des Mannes sind direkt auf sie gerichtet, nehmen sie aber nicht wahr. Sie bewegen sich nicht. Es sind bestimmt die Augen eines Toten.
Die Stewardeß wendet sich von diesem schrecklichen starren Blick ab; ihr Herz klopft laut, und sie überlegt, was sie jetzt tun soll, und sie dankt Gott, daß der Mann keinen Sitznachbarn hat, der schreien und damit eine Panik auslösen könnte. Sie wird als erstes die Chefstewardeß und dann die männliche Besatzung informieren müssen. Vielleicht kann man den Mann in eine Decke einhüllen und ihm die Augen schließen, damit es so aussieht, als schliefe er, für den Fall, daß die Anzeige >Bitte anschnallen< doch noch erlischt und dann einer der Passagiere auf dem Weg zur Toilette an dem Toten vorbeikommt...
All diese Gedanken schießen ihr in weniger als 30 Sekunden durch den Kopf, dann wirft sie ihm einen zweiten Blick zu. Die toten, starren Augen sind unverändert auf sie gerichtet... und dann greift die vermeintliche Leiche nach ihrem Glas Soda und trinkt einen Schluck.
Genau in diesem Moment schwankt das Flugzeug besonders heftig, und der leise Aufschrei der Stewardeß geht in anderen Angstschreien unter. Endlich bewegen sich die Augen des Mannes - kaum merklich, aber sie weiß, daß er sie nun endlich sieht. Und sie denkt: Er ist ja gar nicht so alt, wie ich dachte, als er an Bord ging, trotz seiner graumelierten Haare.
Sie geht zu ihm, obwohl sie hinter sich zahlreiche Passagiere klingeln hört (nach der perfekten Landung, die 30 Minuten später erfolgt, werden die Stewardessen 70 Spucktüten wegzuwerfen haben).
»Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Sir?« fragt sie und weiß, daß ihr Lächeln gezwungen wirken muß.
»Völlig in Ordnung«, antwortete der schlaksige Mann. Sie wirft einen Blick auf den Kontrollabschnitt der ersten Klasse, der in dem kleinen Schlitz auf seiner Rükkenlehne steckt, und sieht, daß er Hanscom heißt. »In bester Ordnung. Bißchen unruhiger Flug, was? Sie haben heute nacht wirklich viel um die Ohren. Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Mir...« Er lächelte ihr zu, aber es ist ein gespenstisches Lächeln, bei dem sie unwillkürlich an Vogelscheuchen denken muß, die auf kahlen Novemberfeldern im Winde flattern. »Mir geht es ausgezeichnet.«
»Sie sahen...«
(tot aus)
».. .ein wenig wettergeschädigt aus«, führt sie ihren Satz zu Ende.
»Ich dachte über die Vergangenheit nach«, sagte er. »Mir ist erst heute abend klargeworden, daß ich mich mit diesem Thema nie beschäftigt habe.«
Weitere Rufsignale der Passagiere. »Stewardeß!« ruft jemand nervös.
»Nun, wenn bei Ihnen alles in Ordnung ist...«
»Ich dachte an einen Damm, den ich einmal mit Freunden gebaut habe«, sagte Ben Hanscom. »Es waren die ersten Freunde, die ich überhaupt jemals hatte. Der Damm... Auf diese Weise habe ich sie kennengelernt. Sie stellten sich furchtbar ungeschickt dabei an. Ich habe ihnen geholfen.«