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»Stewardeß?« »Entschuldigen Sie mich bitte, Sir, ich muß jetzt wirklich

gehen.« »Aber selbstverständlich.«

Sie eilt zu den anderen Passagieren und ist heilfroh, diesem starren, leblosen, fast hypnotischen Blick zu entkommen. Ben Hanscom schaut aus dem Fenster. Etwa neun Meilen unter dem Flugzeug zucken Blitze in den Gewitterwolken, die wie riesige durchsichtige Gehirne voll schlechter Gedanken aussehen. Voll verrückter Gedanken.

Ergreift in seine Jackentasche, aber die Silberdollarmünzen sind nicht mehr da. Er wünscht plötzlich, er hätte einen zurückbehalten, wenigstens einen. Vielleicht hätte er ihnen allen noch von Nutzen sein können. Mit einer Susan B. Anthony-Münze konnte man nichts anfangen. Das war nur ein lausiges Kupferstück. Und man benötigte Silber, um einen Vierwolfoder Vampir aufzuhalten. Man benötigte Silber, um ein Monster aufzuhalten. Man benötigte...

Er schließt die Augen. Die Luft ist vom Klingeln der Rufsignale erfüllt. Das lugzeug schwankte und schlingerte, und die Luft schwirrte von den vielen Rufsignalen.

Nein, nicht vom Klingeln der Rufsignale. Von Glocken. Es sind Glocken, es ist die Glocke, auf die man das ganze Jahr hindurch wartet, sobald das Neue eines angebrochenen Schuljahres seinen Reiz verloren hat, was gewöhnlich schon nach einer Woche der Fall ist. Die Glocke, die für eine Weile Freiheit verheißt.

Ben Hanscom sitzt in der 1. Klasse, den Kopf dem Fenster zugewandt, mit geschlossenen Augen; über dem Mittelwesten ist soeben ein neuer Tag angebrochen, der 27. Mai ist soeben vom 28. Mai abgelöst worden, über dem in dieser Nacht so stürmischen westlichen Illinois; dort unten liegen die Farmer in tiefem Schlaf; wer weiß, was sich vielleicht in ihren Scheunen und in ihren Kellern und auf ihren Feldern bewegt, während die Blitze zucken und der Donner grollt. Niemand weiß so etwas; man weiß nur, daß in solchen Nächten Naturkräfte entfesselt sind, im Innern von Wolken, die mit ihren Windungen riesigen Gehirnen gleichen.

Aber es sind Glocken, die Ben Hanscom in 30000 Fuß Höhe hört, als das Flugzeug endlich die Sturmzone hinter sich hat und die Anzeigen >Bitte anschnallen' endlich erlöschen; es ist die Glocke, die Ben Hanscom im Schlafe hört; und während er schläft, stürzt er durch die Zeit in die Vergangenheit wie in einen tiefen Brunnen, tiefer und immer tiefer in das Land der Morlocks, wo in dunklen Tunneln der Nacht Maschinen dröhnen. Es ist ein Zeitbrunnen. Es wird 1981,1977,1969; und plötzlich ist es Juni 1958, alles strahlt in hellem Sommerlicht und hinter den geschlossenen Augenlidern ziehen sich Ben Hanscoms Pupillen auf Befehl seines Gehirns zusammen, das heftig träumt.

Glocken. Die Glocke.

Die Schule. Die Schule ist. Die Schule ist

2

aus!

Der Klang der Glocke, die in den Korridoren der Volksschule von Derry erscholl, einem großen Ziegelgebäude in der Jackson Street, ließ die Kinder in Ben Hanscoms Klassenzimmer in lauten Jubel ausbrechen - und diesmal wurden sie von der strengen Mrs. Douglas nicht getadelt.

»Kinder!« rief sie, als das Geschrei sich ein wenig gelegt hatte. »Dürfte ich noch einen Augenblick um eure Aufmerksamkeit bitten?«

Nun ging ein aufgeregtes Raunen, vermischt mit einigen tiefen Seufzern, durch das Klassenzimmer dieser fünften Klasse, denn Mrs. Douglas hatte die Zeugnisse in die Hand genommen.

»Hoffentlich bin ich durchgekommen«, sagte Sally Mueller leise zu Bev Marsh, die in der nächsten Reihe saß. Sally war blond, hübsch und lebhaft.

»Mir ist das scheißegal«, erwiderte Bev. Sally rümpfte die Nase - Damen drücken sich nicht so ordinär aus, bedeutete dieses Naserümpfen - und wandte sich Greta Bowie zu. Vermutlich war es ohnehin nur der Aufregung über die Glocke zuzuschreiben, die das Ende eines Schuljahres ankündigte, daß Sally sich herabgelassen hatte, mit Beverly zu reden, dachte Ben. Sally und Greta stammten aus reichen Familien mit Häusern am West Broadway, und Bev kam aus einem der verwahrlosten, heruntergekommenen Wohnhäuser in der Derry Street. Der West Broadway war für Beverly eine völlig fremde Welt; das konnte man schon an ihrem schäbigen Sweatshirt, ihrem

viel zu großen Rock (billiges Zeug von der Heilsarmee) und ihren ausgetretenen Schuhen erkennen. Außerdem waren Sally Mueller und Greta Bowie dumme Rotznasen, und Ben konnte beide nicht leiden. Seiner Meinung nach war Beverly viel hübscher - obwohl er es nie wagen würde, ihr so etwas zu sagen.

Aber manchmal, mitten im Winter, wenn draußen alles grau war, und das gelbliche Licht im Klassenzimmer einschläfernd wirkte, wenn Mrs. Douglas das Dividieren erklärte oder Fragen aus >Shining Bridges< vorlas oder über Zinnvorkommen in Paraguay sprach, an jenen Tagen, wo man das Gefühl hatte, daß die Schule nie enden würde, wo einem das aber nichts ausmachte, weil die ganze Welt ohnehin nur aus Matsch zu bestehen schien - an solchen Tagen betrachtete Benn verstohlen Beverly s Gesicht, und sein Herz schmerzte, aber gleichzeitig durchströmte ihn ein seltsames Glücksgefühl. Er vermutete, daß er für sie schwärmte oder in sie verliebt war oder wie immer man das auch nennen mochte, und solange er das für sich behielt, war es in Ordnung. Fette Jungen dürfen ein hübsches Mädchen nur heimlich lieben, dachte. Wenn er jemandem seine Gefühle anvertrauen würde (er hatte aber ohnehin niemanden, dem er etwas anvertrauen konnte), so würde die betreffende Person bestimmt lachen. Und wenn er Beverly selbst gestehen würde, welche Gefühle er für sie hegte, so würde sie ihn bestimmt entweder auslachen (und das wäre schlimm) oder aber ihm zu verstehen geben, daß sie sich vor einem Fettkloß wie ihm ekelte (was noch viel schlimmer wäre).

»Paul Anderson... Carla Bordreaux... Greta Bowie.,. Calvin Clark... Cissy Clark...«

Mrs. Douglas rief in alphabetischer Reihenfolge die Namen ihrer Fünft-kläßler auf, und die Kinder traten vor, nahmen ihre lederfarbenen Zeugnisse mit der amerikanischen Flagge und dem Treuegelöbnis auf dem vorderen Einband und dem Vaterunser auf dem hinteren Einband in Empfang, gingen manierlich zur Tür... und sausten dann den Gang entlang, an dessen Ende die große Flügeltür weit offenstand. Und so rannten sie in den Sommer hinein - manche hüpfend und springend, andere auf unsichtbaren Pferden reitend, wobei sie sich mit den Händen auf die Schenkel schlugen, um das Hufgetrappel nachzuahmen, wieder andere auf Fahrrädern; manche hängten sich ein, bildeten Ketten und sangen: »Mine eyes have seen the glory of the burning of the school« nach der Melodie von >The Battle Hymn af the Republik

»Marcia Fadden... Frank Frick... Ben Hanscom...«

Er stand auf, warf einen letzten Blick auf Beverly Marsh - zumindest dachte er, daß es für diesen Sommer der letzte sein würde - und ging nach vorne, ein zehnjähriger Junge mit einem Gesäß etwa von der Größe NeuMexicos in scheußlichen neuen Bluen Jeans, deren Kupfernieten im hellen Licht funkelten und die ein schabendes Geräusch von sich gaben, wenn seine fetten Schenkel beim Gehen aneinanderrieben. Seine Hüften wackelten wie bei einem Mädchen, und sein Bauch schwabbelte von einer Seite zur anderen. Er trug einen sackartigen Sweater, weil er sich seiner Brust furchtbar schämte, seit er am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien eines seiner neuen Ivy-League-Hemden getragen hatte, und Belch Huggins,

ein Sechstkläßler, gebrüllt hatte: »He, schaut euch nur mal Hanscom an! Der Weihnachtsmann hat Benny Hanscom tolle Titten geschenkt!« und sich vor Lachen über seinen eigenen Witz gebogen hatte. Andere hatten in sein Gelächter eingestimmt... darunter auch einige Mädchen. Ben wäre in jenem Augenblick vor Scham am liebsten im Erdboden versunken.