»Nein«, brachte er schließlich mühsam hervor und räusperte sich. »Bestimmt nicht.« Ein idiotisches Grinsen breitete sich auf seinem fetten Gesicht aus.
»Dann ist's ja gut. Die Schule ist nämlich aus, mußt du wissen. Gott sei Dank!«
»Ich wünsch' dir einen schönen Sommer, Beverly«, sagte er.
»Danke, gleichfalls. Ben. Also dann, bis zum Herbst.«
Und sie lief weiter die Treppe hinab, leichtfüßig und anmutig, und Ben nahm alles an ihr mit den Augen der Liebe wahr: die leuchtenden Schottenkaros ihres Rockes, die wippenden roten Haare auf dem Sweatshirt, den hellen, zarten Teint, die kleine, fast verheilte Schnittwunde an ihrer Wade, die Tatsache, daß sie keine Strümpfe trug und das goldene Fußkettchen direkt über ihrem rechten Schuh, das in der Sonne funkelte (aus irgendeinem Grunde überwältigte ihn besonders diese letzte Einzelheit; seine Gefühle wurden wieder so übermächtig, daß er sich am Geländer festhalten mußte; vielleicht war es eine Art sexuelle Vorahnung, obwohl sein Körper noch nicht bereit für solche Dinge war, bedeutungslos und doch so grell aufleuchtend wie ein Blitz in einer klaren, heißen Sommernacht.
Ein unartikulierter Laut kam aus seinem Mund. Er ging die Treppe hinab wie ein Schlafwandler, blieb unten stehen und blickte ihr nach, bis sie nach links abbog und hinter einer hohen Hecke verschwand, die den Schulhof vom Trottoir trennte.
3
Die kurze Unterhaltung mit Beverly hatte Ben total durcheinandergebracht; trotzdem hatte er aber seine potentiellen Probleme mit Henry Bowers nicht ganz vergessen. Er war nicht so geistesabwesend, daß er - wie Bev - den Vorderausgang benutzt hätte; dieser Weg barg Gefahren, weil Belch Huggins und Victor Criss dort herumstanden.
Statt dessen überquerte er den Spielplatz, verließ das Schulgelände durch die kleine Hinterpforte und ging die Charter Street entlang, ohne dem Steingebäude, in dem er während der letzten neun Monate jeden Werktag verbracht hatte, auch nur einen Blick zu gönnen. Die nächsten acht Blocks legte er - so schien es ihm - zurück, ohne daß seine Schuhsohlen den Boden berührten.
Heute war um die Mittagszeit Schulschluß gewesen; seine Mutter würde frühestens um sechs nach Hause kommen, denn mittwochs ging sie von der Fabrik aus immer direkt zum Einkaufen. Ein langer Nachmittag lag vor ihm und wartete darauf, ausgefüllt zu werden.
Er ging in den McCarron-Park und setzte sich eine Zeitlang unter einen Baum. Dort träumte er vor sich hin und flüsterte von Zeit zu Zeit: »Ich liebe Beverly Marsh«, wobei ihn jedesmal ein leichter romantischer Schauder durchlief. Einmal, als Jungen zum Baseballspielen in den Park gerannt kamen, flüsterte er auch vor sich hin: »Beverly Hanscom.« Danach drückte er sein Gesicht ins Gras, bis seine glühenden Wangen etwas abgekühlt waren.
Kurz darauf stand er auf und durchquerte den Park in Richtung Costello Avenue. Von dort waren es nur fünf Blocks bis zur öffentlichen Bücherei, zu der es ihn - wie er vermutete - schon die ganze Zeit über hinzog. Fast gelang es ihm, den Park unbemerkt zu verlassen, aber dann entdeckte ihn ein Sechstkläßler namens Pete Gendron und rief: »He, Hanscom, willste mitspielen? Wir brauchten noch 'nen guten Torwart!« Ein schallendes Gelächter folgte diesen Worten, dem Ben mit eingezogenem Kopf so schnell wie möglich zu entkommen versuchte.
Heute schien ein Glückstag für ihn zu sein; die Jungen waren so in ihr Spiel vertieft, daß sie ihn nicht verfolgten, und auf der Costello Avenue entdeckte er unter einem Heckenzaun eine völlig durchweichte Tüte mit vier großen Sodaflaschen - zu fünf Cent Flaschenpfand pro Stück - und vier Bierflaschen. Das waren insgesamt 28 Cent, die nur darauf warteten, von irgendeinem Kind eingelöst zu werden. Ben hob die Flaschen auf und brachte sie in den Supermarkt auf der Costello Avenue, wo er sie abgab, sich das Geld dafür geben ließ und dann für 24 Cent billige Bonbons kaufte.
Mit seiner braunen Papiertüte voll Bonbons trat er wieder auf die Straße hinaus. Von dem Flaschenpfandgeld waren nur noch vier Cent übrig. Er betrachtete die braune Tüte, und plötzlich stieg ein Gedanke in ihm auf:
Wenn du so weiterfrißt, wird Beverly Marsh dich nie lieben -
und er verdrängte ihn rasch wieder-. Wenn jemand ihn gefragt hätte: >Ben, bist du einsam?< hätte er den Fragesteller überrascht angeschaut, denn dieser Gedanke war ihm noch nie gekommen. Er hatte keine Freunde, aber er hatte seine Bücher, seine Träume und seine Modellbaukästen. Zu seinem Geburtstag im Oktober würde er vielleicht sogar den Super-Deluxe-Bauka-sten bekommen, mit dem man eine Uhr bauen konnte, die richtig die Zeit anzeigte, oder ein Auto mit richtiger Gangschaltung. >Einsam?< hätte er vermutlich geantwortet, ehrlich verblüfft. >Häh? Was?<
Ein Kind, das von Geburt an blind ist, ist sich dessen nicht bewußt, bis jemand es darauf aufmerksam macht, und selbst dann hat es nur eine abstrakte Vorstellung davon, was Blindheit bedeutet; nur jene Menschen, die sehen können oder aber ihr Augenlicht verloren haben, begreifen wirklich, was es heißt, blind zu sein. Entsprechend hatte auch Ben Hanscom nicht das Gefühl, einsam zu sein, weil er es immer gewesen war. Wenn das ein neuer Zustand gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich darunter gelitten; aber die Einsamkeit umgab von jeher sein Leben von allen Seiten. Deshalb spürte er sie kaum. Sie war einfach eine Realität, ebenso wie sein zweigliedriger Daumen oder die kleine Kerbe auf der Innenseite eines Vorderzahns, über die er unwillkürlich immer mit der Zunge fuhr, wenn er nervös war.
Beverly war ein süßer Traum; die Bonbons waren eine süße Realität. Die Bonbons waren seine Freunde. Deshalb verdrängte er den unangenehmen Gedanken sofort wieder, während er die Costello Avenue in Richtung Bücherei entlangging. Einen Teil der Bonbons wollte er sich für den Abend vor dem Fernseher aufsparen. >Whirlybirds< kam heute, mit Kenneth Tobey als furchtlosem Hubschrauberpiloten. Und außerdem Broderick Crawford in >Highway Patroh. Broderick Crawford war Bens persönliches Idol. Er war, wie Ben selbst, sehr dick. Aber dieser Teufelskerl war schnell, er war hartgesotten und ließ sich von niemandem etwas gefallen.
Mit solchen Gedanken beschäftigt, erreichte Ben die Ecke Costello Avenue und Kansas Street, wo er die Straße überquerte, um zur Bücherei zu kommen. Sie bestand aus zwei Gebäuden - dem alten Steinhaus, das 1890 mit Geldern reicher Holzhändler gebaut worden war, und dem neuen niedrigen Sandsteingebäude hinter dem Hauptgebäude, in dem die Kinderbücherei untergebracht war. Die beiden Abteilungen waren durch einen verglasten Korridor miteinander verbunden.
Auf diesem Abschnitt in der Nähe der Stadtmitte war die Kansas Street eine Einbahnstraße, deshalb schaute Ben nur nach rechts, bevor er die Straße überquerte. Hätte er einen Blick nach links geworfen, so hätte er einen Riesenschreck bekommen. Links von der Bücherei, etwa anderthalb Blocks entfernt, erhob sich die Stadthalle, ein altes viktorianisches Gebäude, das vom Nationalen Rat der Kirchen für die Bürger von Derry renoviert worden war. Auf dem Rasen neben der Stadthalle standen im Schatten einer großen alten Eiche Belch Huggins, Victor Criss... und Henry Bowers.
»Kommt, jetzt schnappen wir ihn uns!« sagte Victor Criss begierig.
Henry beobachtete, wie der fette Dreckskerl rasch die Straße überquerte, mit schwabbelndem Bauch und wackelndem Hintern in den neuen Jeans, mit einer auf und ab wippenden abstehenden Haarsträhne am Hinterkopf. Er schätzte die Entfernung zwischen ihnen und Hanscom ab, danach die zwischen Hanscom und der Sicherheit bietenden Bücherei. Vermutlich würden sie ihn schnappen, bevor er hineinlaufen konnte, aber der fette Dreckskerl könnte ein Gebrüll loslassen. Ein Erwachsener könnte sich einmischen.