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Henry wünschte keine Einmischung.

Der fette Dreckskerl hatte ihn nicht abschreiben lassen, obwohl er ihn dazu aufgefordert hatte, und vorhin hatte diese Hexe von Douglas ihm gesagt, daß er in Englisch und Mathematik durchgefallen war. Sie hatte ihm erklärt, daß er trotzdem versetzt würde, aber er müsse dazu vier Wochen lang die Sommer-Wiederholungskurse besuchen. Henry wäre lieber noch einmal sitzengeblieben, denn zur Sommerschule gehen zu müssen, bedeutete Prügel von seinem Vater. Henry würde nicht da sein, um bei der Heuernte zu helfen, Henry würde nicht da sein, um Erbsen zu ernten, Henry würde nicht da sein, um zu jäten. Folglich würde er im Holzschuppen eine Tracht Prügel bekommen, und über diese Aussicht tröstete ihn nur hinweg, daß er die Prügel an diesen fetten Dreckskerl Ben Hanscom weitergeben würde.

»Ja, gehen wir«, meinte auch Belch.

»Nein, warten wir lieber, bis er wieder rauskommt«, sagte Henry.

Die drei standen im Schatten der Eiche und beobachteten, wie Ben einen Flügel der großen Tür öffnete und hineinging.

5

Ben liebte die Bücherei.

Er liebte die Tatsache, daß es dort selbst an den heißesten Sommertagen kühl war; er liebte die beruhigende Stille, die nur gelegentlich von einem Flüstern unterbrochen wurde, vom Rascheln einer Zeitung oder Zeitschrift oder vom leisen Geräusch des Stempels auf Büchern und Leihkarten; er liebte das Licht, das nachmittags in staubigen Strahlen durch die hohen, schmalen Fenster einfiel oder an Winterabenden warm von den großen, an Ketten von der Decke herabhängenden Kugellampen ausging. Er liebte den Geruch von Büchern, und manchmal schlenderte er an den Regalen entlang, betrachtete die Tausende von Büchern für Erwachsene und malte sich aus, daß jedes eine Welt für sich war, von den verschiedensten Gestalten bevölkert; genauso malte er sich manchmal aus, wenn er in der Oktoberdämmerung seine Straße entlangging und die Sonne nur eine scharfe orangegelbe Linie am Horizont war, wie wohl das Leben hinter den Fenstern aussehen mochte - Menschen, die lachten oder sich stritten oder Karten spielten oder ihre Haustiere fütterten oder Fernsehen schauten. Er liebte es,

daß es im Verbindungsgang zwischen der alten Bücherei und Kinderbücherei sogar im Winter immer heiß war, abgesehen von bewölkten Tagen; das sei der Gewächshaus-Effekt, hatte Mrs. Starrett, die Leiterin der Kinderbücherei, ihm erklärt, und Ben war fasziniert von dieser Idee. Jahre später baute er in London ein heiß diskutiertes Gebäude für den BBC, ein Gebäude, das fast nur aus Glas bestand, und niemand wußte (abgesehen von Ben selbst), daß das BBC-Kommunikationszentrum, das etliche Millionen Pfund verschlungen hatte, große Ähnlichkeit mit dem gläsernen Verbindungskorridor zwischen der Alten Bücherei und der Kinderbücherei von Derry hatte, wenn man sich diesen vertikal aufgerichtet vorstellte.

Ben liebte auch die Kinderbücherei, obwohl sie nichts von dem geheimnisvollen Zauber der Alten Bücherei mit ihren Kugellampen, den eisernen Wendeltreppen und den hohen Gleitleitern besaß. Die Kinderbücherei war hell und sonnig, und trotz der Hinweistafeln > Bitte Ruhe< war es hier immer etwas lauter, hauptsächlich wegen >Poohs Ecke<, wo die kleinen Kinder Bilderbücher und ähnliches anschauen konnten. Heute las Miß Davies, die hübsche junge Bibliothekarin, gerade vor, und die Kleinen saßen ruhig da und lauschten gebannt dem Märchen >Billy Goat's

Gng-

»Wer trippelt und trappelt da über meine Brücke?« las Miß Davies, als Ben an ihr vorbeiging. Sie imitierte die tiefe, brummende Stimme des Trolls in der Geschichte, und einige Kinder hielten sich die Hand vor den Mund und kicherten, aber andere hingen gebannt an ihren Lippen, und ihre Augen spiegelten die ewige Faszination des Märchens: würde das Ungeheuer besiegt werden... oder würde es die Guten auffressen?

In der Kinderbücherei hingen viele bunte Poster. Auf einem Cartoon war ein braves Kind dargestellt, das sich so intensiv die Zähne putzte, daß es Schaum vor dem Mund hatte wie ein tollwütiger Hund; auf einem anderen Cartoon war ein böses Kind dargestellt, das Zigaretten rauchte; da hing ein herrliches Foto, auf dem eine Billion winziger Lichter in der Dunkelheit flackerten, und darunter stand der Ausspruch: EINE EINZIGE IDEE ENTZÜNDET TAUSENDE KERZEN.

Emerson

Ein Poster lud dazu ein, sich den Pfadfindern anzuschließen; ein weiteres behauptete: die Mädchenklubs von heute formen die frauen von morgen. Es gab Einladungen zum Baseballspielen und zum Kindertheater in der Stadthalle. Und dann natürlich das Poster: beteiligt euch am sommer-leseprogramm. Ben kam dieser Aufforderung jedes Jahr begeistert nach. Wenn man sich dazu einschrieb, erhielt man eine Karte der Vereinigten Staaten. Für jedes gelesene Buch, über das man einen kurzen Bericht schrieb, bekam man dann einen Aufkleber mit Informationen über einen Bundesstaat, sein Wappen und ähnliches. Wenn man alle 49 Staaten auf der Karte aufgeklebt hatte, gab es einen Buchpreis. Ben beabsichtigte, die Anregung auf dem Poster zu befolgen: verliere keine

ZEIT, SCHREIB DICH NOCH HEUTE EIN.

Von all diesen farbenfrohen Postern stach ein einfaches Plakat ab (paßte aber irgendwie gut zu Miß Davies' brummender Stimme in >Poohs

Ecke< hinter ihm), das an der Ausleihtheke angebracht war, hinter der Mrs. Starrett gerade Benachrichtigungen wegen überfälliger Bücher schrieb. Auf dem Plakat stand nur:

DENKT AN DIE SPERRSTUNDE!

19 UHR POLIZEISTATION DERRY.

Ein kleiner Schauder lief Ben über den Rücken. Über der ganzen Aufregung - dem Beginn der Sommerferien, dem Zeugnis, den beiden Raufbolden Criss und Huggins gegenüber der Schule und der Unterhaltung mit Beverly Marsh - hatte er die Sperrstunde ganz vergessen... und die Morde.

Man war sich nicht ganz einig darüber, wieviel es eigentlich gewesen waren. Manche sagten, der kleine Denbrough, George, sei das erste Mordopfer gewesen, während andere behaupteten, daß dieser Mord im vergangenen Oktober mit den anderen nicht in Verbindung stehe, aber alle stimmten darin überein, daß sich seit dem Tag nach Weihnachten des Vorjahres mindestens vier Morde ereignet hatten; damals war Betty Ripsom an der Outer Jackson Street gefunden worden, in der Nähe der Baustelle für den neuen Autobahnabschnitt. Das dreizehnjährige Mädchen war teilweise in die schlammige Erde im Straßengraben eingefroren; sein Körper war übel verstümmelt gewesen.

Etwa dreieinhalb Monate später, kurz nach Beginn der Forellenfangsaison, hatte ein Fischer, der etwa 20 Meilen östlich von Derry am Ufer des To-rault Stream angelte, etwas an Land gezogen, das er zunächst für einen Stock gehalten hatte. Es hatte sich dabei aber um eine Hand mit einem Stück Unterarm eines Mädchens gehandelt. Der Angelhaken war ins Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger eingedrungen. Die Polizei hatte den Rest von Cheryl Lamonicas Körper etwa 70 Yards weiter stromabwärts gefunden - er hatte sich in einem Baum verfangen, der im Winter umgestürzt und in den Fluß gefallen war. Der die Suchaktion leitende Polizeibeamte hatte darauf hingewiesen, daß der Torault weniger als eine halbe Meile stromabwärts in den Penobscot mündete und es deshalb reines Glück gewesen war, daß die Leiche des Mädchens von der starken Strömung im Frühjahr nicht in den großen Fluß und von dort ins Meer geschwemmt worden war.

Cheryl Lamonica war 16 Jahre alt gewesen. Sie hatte keine Schule mehr besucht; mit 13 hatte sie ihre Tochter Andrea zur Welt gebracht und mit ihr im Hause ihrer Eltern gewohnt. »Cheryl war ein bißchen wild, aber im Grunde genommen war sie ein gutes Mädchen«, hatte ihr schluchzender Vater der Polizei berichtet. Das Mädchen war fünf Wochen vor Auffindung der Leiche als vermißt gemeldet worden. Die vorherrschende Meinung war damals gewesen, daß einer von Cheryls Freunden (»Oh, sie hatte mehrere, die meisten waren nette Jungs«, hatte ihre Mutter gesagt; aber einer der metten Jungs<, der mit der sechzehnjährigen Cheryl ausgegangen war, war ein neunundzwanzigjähriger, in Banbor stationierter Luftwaffenoberst gewesen) sie umgebracht hatte. Oder daß ein Sexualmörder beide Mädchen auf dem Gewissen hatte.