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Wenn es sich um einen Sexualmörder handelte, so hatte er es offensichtlich auch auf Jungen abgesehen, denn Ende April hatte ein Lehrer der Junior High School, der mit seiner Klasse eine Wanderung machte, ein Paar rote Segeltuchschuhe und die Hosenbeine eines blauen Spielanzugs erspäht, die aus einem Abzugskanal an der Merit Street herausragten. Dieser Teil der Merit Street war im Herbst des Vorjahres abgesperrt und der Asphalt mit Bulldozern aufgerissen worden; die neue Autobahn nach Bangor sollte auch hier vorbeiführen.

Die Leiche erwies sich als die des dreijährigen Matthew Clements, der erst am Vortag von seinen Eltern als vermißt gemeldet worden war (sein Foto war auf der ersten Seite der >Derry News< gewesen - ein Junge mit langen dunklen Haaren, der unter einer Mütze hervor frech in die Kamera gegrinst hatte). Die Clements wohnten in der Kansas Street, ziemlich am ' Stadtrand. Matthews Mutter, die vor Kummer so erstarrt war, daß sie eine unheimliche, jenseitige Ruhe ausstrahlte, hatte der Polizei erzählt, daß der Junge mit seinem Dreirad auf dem Gehweg neben dem Haus, das an der Ecke von Kansas Street und einer Sackgasse namens Kossuth Lane stand, auf und ab gefahren sei. Sie selbst habe nur kurz ihre Wäsche aus der Waschmaschine in den Trockner gepackt, und als sie dann wieder aus dem Fenster geschaut habe, sei nur noch sein Dreirad zu sehen gewesen, das umgestürzt im Rinnstein zwischen Gehweg und Straße lag. Eines der Hinterräder habe sich noch gedreht.

Daraufhin hatte Polizeichef Borton die Sperrstunde verhängt. Alle Kinder mußten um sieben Uhr abends zu Hause sein. Kleine Kinder sollten ständig von einem qualifizierten Erwachsenem beaufsichtigt werden. In Bens Schule hatte vor einem Monat eine Versammlung stattgefunden, bei der Polizeichef Borton ihnen versichert hatte, sie brauchten keine Angst zu haben, sollten aber trotzdem vorsichtig sein: die Sperrstunde einhalten, nicht mit Fremden reden, nie zu unbekannten Männern oder Frauen ins Auto steigen und sich immer daran erinnern, daß die Polizei dein Freund und Helfer ist.

Vor zwei Wochen hatte ein Junge, den Ben oberflächlich kannte (er war in einer der beiden anderen fünften Klassen der Fairmount-Schule), in einen Gully in der Nähe der Stelle geschaut, wo die Witcham Street in Witcham Road überging, und dort unten Haare schwimmen sehen. Eine Menge Haare. Dieser Junge, der entweder Frankie oder Freddy ROSS (vielleicht auch Roth) hieß, war mit einer einfallsreichen Erfindung unterwegs gewesen, die er >Gummi-Stecken< nannte. Es handelte sich dabei um einen langen, schmalen Birkenast, an dessen Spitze Frankie oder Freddy einen großen Klumpen Kaugummi befestigt hatte. In seiner Freizeit schweifte Freddy (oder Frankie) mit seinem Gummi-Stecken durch Derry und spähte in Gullys. Manchmal sah er dort unten Geld liegen - meistens Pennies, manchmal aber auch Zehn-Cent- oder Fünfundzwanzig-Cent-Münzen. Sobald er das Geldstück ausfindig gemacht hatte, trat sein Gummi-Stecken in Aktion, und gleich darauf klimperte die Münze in Frankie-Freddys Tasche.

Ben hatte Gerüchte über Frankie-oder-Freddy gehört, lange bevor der Junge als Entdecker der Leiche von Veronica Grogan bekannt wurde. »Der Kerl ist wirklich unappetitlich«, hatte ein Junge namens Richie Tozier Ben eines Tages während der Pause anvertraut. Tozier war ein mageres Bürschchen, dessen Brillengläser so dick waren wie der Boden einer Coke-Flasche, und er hatte riesige Schneidezähne, die ihm den Spitznamen Bucky Beaver eingebracht hatten. Er war in derselben fünften Klasse wie Frankie-oder-Freddy. »Den ganzen Tag stochert er mit seinem Stecken in den Gullys herum, und abends nimmt er den Kaugummi vom Stecken ab und kaut ihn.«

Frankie-oder-Freddy war nach Hause gerannt und hatte seiner Mutter erzählt, daß jemand eine Perücke in einen der Gullys in der Witcham Road geworfen hätte. Seine Mutter hatte ihm erklärt, er solle sich zum Teufel scheren. Der Junge war mit seinem Gummi-Stecken zu der Stelle zurückgegangen und hatte solange herumgestochert, bis ein Gesicht aus dem schmutzigen Wasser auf dem Grund des verstopften Gullys aufgetaucht war, ein Gesicht, an dessen weißen Wangen welke Blätter klebten wie eine groteske Kriegsbemalung, und das Schmutz in den starren Augen hatte.

Frankie-oder-Freddy war schreiend nach Hause gerannt.

Veronica Grogan war in der vierten Klasse der Neibolt School gewesen, die von Leuten geleitet wurde, die Bens Mutter als >Baptisten< bezeichnete. Am Tage ihrer Beerdigung wäre Veronica zehn Jahre alt geworden.

Nach diesem letzten schrecklichen Vorfall hatte sich Arlene Hanscom zu ihrem Sohn gesetzt und gefragt: »Ben, bist du ein Dummkopf?«

»Nein, Mama«, hatte Ben geantwortet. Ihm war etwas unbehaglich zumute gewesen. Er hatte keine Ahnung gehabt, worauf sie hinauswollte. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals so ernst erlebt zu haben.

»Nein«, wiederholte sie nachdenklich. »Das glaube ich auch nicht.«

Dann schwieg sie lange und schaute aus dem Fenster in die Nacht hinaus, und Ben fragte sich, ob sie ihn vielleicht vergessen hatte. Sie war noch eine junge Frau, erst 32, aber die Schwierigkeiten, allein für ihren Sohn sorgen zu müssen, waren ihr deutlich anzusehen. Sie arbeitete 40 Stunden pro Woche in Starks Textilfabrik in Newport, und manchmal, wenn besonders viele winzige Textilfasern und Staub im Raum herumschwirrten, hustete sie abends so lange und so stark, daß Ben Angst bekam. Es hatte Abende gegeben, an denen er nicht einschlafen konnte und darüber nachdachte, was wohl aus ihm werden würde, wenn sie starb. Er wäre dann eine Waise, und vermutlich würde man ihn ins Waisenhaus nach Bangor stecken. Das war ein schrecklicher Gedanke. Seine Mutter war eine strenge Frau, die darauf bestand, daß er ihr widerspruchslos gehorchte, aber sie war eine sehr gute Mutter. Er liebte sie sehr.

»Du weißt doch über diese Morde Bescheid«, sagte sie an jenem speziellen Abend schließlich.

Er nickte.

»Zuerst glauben die Leute, die Sache hätte...« Sie zögerte, denn sie hatte mit ihrem Sohn noch nie über dieses Thema gesprochen, aber die Umstände waren ungewöhnlich, und sie zwang sich weiterzureden. »... sexuelle Motive, und vielleicht stimmt das tatsächlich, vielleicht aber auch nicht. Niemand kann mehr irgendwas mit Sicherheit sagen, außer daß irgendein Verrückter frei herumläuft und kleine Kinder umbringt. Verstehst du mich, Ben?«

Er nickte wieder.

»Und du weißt, was ich meine, wenn ich sage, daß es vielleicht Sexualverbrechen waren?«

Er wußte es nicht, aber er nickte. Er wäre vor Scham in die Erde gesunken, wenn seine Mutter mit ihm über Sex geredet hätte.

»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte sie. »Du bist sehr viel allein - zuviel, nehme ich an. Du...«

»Mom...«

»Unterbrich mich nicht«, sagte sie, und Ben verstummte. »Du mußt sehr vorsichtig sein. Ben. Bald ist Sommer, und ich möchte dir die Ferien nicht verderben, aber du mußt vorsichtig sein. Ich möchte, daß du jeden Abend um sechs Uhr zum Essen zu Hause bist. Wenn ich den Tisch decke und deine Milch eingieße und feststelle, daß kein Ben auf seinem Stuhl sitzt oder sich gerade die Hände wäscht, werde ich die Polizei anrufen und dich als vermißt melden. Verstehst du das?«

»Ja, Mom«, flüsterte er. Sie meinte es wirklich ernst.

»Nun würde es sich später höchstwahrscheinlich als überflüssig erweisen, wenn ich das tun müßte. Ich weiß ein wenig Bescheid, was Jungs so alles treiben. Ich weiß, daß sie während der Sommerferien immer mit irgendwas beschäftigt sind - Bienen bis zu ihren Bienenstöcken zu verfolgen oder Ball zu spielen oder was auch immer. Ich kann mir ziemlich gut vorstellen, womit du und deine Freunde euch die Zeit vertreibt, weißt du, Ben.«