Er hob den rechten Fuß und stieß ihn in Henrys Magen. Das Geländer krachte und zersplitterte, und plötzlich flog er durch die Luft nach hinten. Er sah, wie Henry, der überhaupt nicht mit Widerstand gerechnet hatte, rückwärts taumelte, mit völlig perplexem, komischem Gesichtsausdruck. Sein Klappmesser fiel auf das Pflaster der Kansas Street. Und während Ben noch durch die Luft flog und nicht wußte, ob er sich gleich den Schädel aufschlagen oder die Wirbelsäule verletzen würde, verspürte er doch ein wildes Triumphgefühl, und der Schrei, den er während des Fallens ausstieß, war zur Hälfte ein Lachen.
Er landete knapp unterhalb des vorstehenden Kanalrohrs mit Rücken und Gesäß auf dem Abhang. Glück gehabt, schoß es ihm durch den Kopf. Wenn er gegen dieses rostige Rohr geprallt wäre, hätte er sich leicht das Rückgrat brechen können.
So aber hatte er den Aufprall kaum gespürt, weil der Abhang dicht mit Gras und Farnkraut bewachsen war. Er machte einen unfreiwilligen Purzelbaum rückwärts, und dann glitt er den steilen Abhang hinab wie ein Kind auf einer großen grünen Rutschbahn; er versuchte vergeblich, mit den Händen irgendwo Halt zu finden und riß dabei nur Büschel von Gras und Farnkraut aus.
Er sah, daß er sich mit rasender Geschwindigkeit immer weiter von der Stelle entfernte, wo er noch vor wenigen Sekunden seinem Peiniger hilflos ausgeliefert gewesen war. Er sah Victor und Belch; mit weit aufgerissenen Mündern verfolgten sie seine Rutschpartie. Seine Büchereibücher fielen ihm ein, die dort oben verstreut auf dem Gehweg und im Rinnstein lagen, und fast geriet er wieder in Panik - wie sollte er sie nur zurückbekommen? -und dann blieb sein linkes Bein irgendwo hängen, und ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn.
Es war ein umgestürzter Baum, der seine Rutschpartie beendet und ihm fast das Bein gebrochen hätte. Ben kroch ein Stück zurück und befreite es, stöhnend vor Schmerz. Er befand sich etwa auf halber Höhe des Abhangs. Unter ihm wurde das Gebüsch dichter. Aus dem Rohr über ihm rannen dünne Wasserbäche über seine Hände.
Er hörte über sich einen Schrei, blickte hoch und sah, wie Henry Bowers mit dem Messer in der Hand vom Gehweg nach unten sprang, wie der Anführer eines Marine-Sturmtrupps. Er landete auf beiden Beinen und rannte mit selbstmörderischer Geschwindigkeit den Steilabhang hinab, wobei er vor Wut die Zähne fletschte.
»Ich bring' dich um, Fettkloß! Verdammt, jetzt bring' ich dich um!«
Mit der gleichen Kaltblütigkeit wie zuvor erkannte Ben, was er tun mußte. Er rappelte sich mühsam hoch und nahm ganz unterbewußt wahr, daß sein linkes Hosenbein zerrissen und blutig war; aber immerhin hatte er sich das linke Bein nicht gebrochen.
Ben ging etwas in die Knie, um sein Gleichgewicht besser halten zu können, und als Henry ihn mit einer Hand packen und mit der anderen mit seinem Messer zustoßen wollte, machte er einen Schritt zur Seite. Dabei verlor er das Gleichgewicht, aber im Fallen streckte er sein linkes Bein aus, und Henry stolperte darüber. Es sah so aus, als würden ihm die Füße nach hinten weggezogen, und er flog über den umgestürzten Baum hinweg wie Superman; seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund öffnete und schloß sich, und Speichel flog ihm aus einem Mundwinkel.
Dann schlug er auf dem Boden auf, wobei er sein Messer verlor. Er rollte den Abhang hinab und verschwand im dichten Gebüsch. Ben hörte das Bersten von Zweigen, dann ein dumpfes Dröhnen... dann gespenstische Stille.
Größere und kleinere Steine rollten an ihm vorbei. Er blickte wieder hoch und sah, daß Victor und Belch den Abhang hinabkletterten, wesentlich vorsichtiger als ihr verrückter Anführer.
Ben stöhnte. Würde dieser Alptraum denn nie ein Ende nehmen?
Ohne sie aus den Augen zu lassen, begann er den Abhang hinabzusteigen. Er keuchte laut und hatte heftiges Seitenstechen. Die Büsche um ihn herum wurden größer und dichter; von irgendwoher hörte er das Plätschern von Wasser.
Sein Fuß glitt aus, er rollte wieder bergabwärts und riß sich den Handrük-ken an einem scharfen Stein auf; Fetzen seines ruinierten Sweaters blieben im Dornengestrüpp hängen.
Schließlich landete er ziemlich unsanft am Fuße des Abhangs, mit den
inen im Wasser. Rechts von ihm schlängelte sich ein schmaler Bach ins dichte Unterholz hinein, das so dunkel aussah wie eine tiefe grüne Höhle. Er schaute nach links und sah Henry Bowers auf dem Rücken in demselben Bach liegen. In seinen halb geöffneten Augen war nur das Weiße zu sehen. Aus einem Ohr sickerte Blut und floß in dünnen Rinnsalen den Bach hinab.
O mein Gott, ich habe ihn umgebracht! O mein Gott, ich bin ein Mörder! O mein Gott!
Ohne daran zu denken, daß Belch und Victor hinter ihm her waren, platschte Ben etwa zwanzig Fuß den Bach hoch, bis zu der Stelle, wo Henry Bowers mit völlig zerfetztem Hemd und durchweichten Jeans lag. Ben war sich vage bewußt, daß von seinen eigenen Kleidern nicht mehr viel übrig war, und daß ihm jeder Knochen im Leibe weh tat. Am schlimmsten war sein linker Knöchel; er war dick geschwollen, und Ben konnte nur noch so vorsichtig mit diesem Fuß auftreten, daß sein Gang große Ähnlichkeit mit dem eines einbeinigen Seemanns mit Holzprothese hatte, der nach einer langen Schiffsreise den ersten Tag an Land war.
Er beugte sich über Henry Bowers. In diesem Augenblick riß Henry die Augen weit auf und packte ihn mit einer zerkratzten blutigen Hand an der Wade. Seine Lippen bewegten sich, und zwischen den pfeifenden Atemzügen konnte Ben ihn mühsam flüstern hören: »... dich umbringen, du fetter Scheißkerl!«
Henry versuchte, sich an Bens Bein hochzuziehen. Ben riß es mit einem Ruck zurück, und Henrys Hand glitt ab. Mit den Armen wild um sich schlagend, flog Ben rückwärts und landete platschend im Bach. Tropfnaß rappelte er sich wieder hoch.
Henry stand auf allen vieren und starrte Ben aus seinen schwarzen Augen wild an. Seine Haarstoppeln sahen aus wie ein Kornfeld nach einem heftigen Sturm.
Ein rasender Zorn überkam Ben. Er war friedlich mit seinen Büchern unter dem Arm spazierengegangen, er hatte niemandem etwas getan - und was war passiert? Vielleicht war es der Gedanke an die ausgeliehenen Bücher, für die er verantwortlich war, der ihn zum Handeln trieb; die Bücher und Mrs. Starretts vorwurfsvoller Blick, den er vor seinem geistigen Auge deutlich sah. Vielleicht war es auch der Gedanke daran, was seine Mutter sagen würde, wenn sie seine ruinierten Kleidungsstücke oder sein Zeugnis sah, das er sorgfältig in seiner Hüfttasche verstaut hatte - die ordentlich mit Tinte geschriebenen Noten würden jetzt total verschmiert sein. Möglicherweise war es sogar die plötzliche Erkenntnis, daß es auf der Welt ungerecht zugeht, die ihn jetzt zum entschlossenen Handeln trieb.
Jedenfalls machte er einen Schritt vorwärts, als Henry gerade mühsam auf die Beine kam, und trat ihn kräftig in die Hoden.
Henry stieß einen gräßlichen Schrei aus - Vögel flatterten aufgeschreckt aus den Bäumen auf -, er fiel auf den Rücken, umklammerte seine Eier und rollte hilflos von einer Seite zur anderen, wobei seine Schuhe dünne Wasserfontänen verspritzten.
»O Gott, meine Eier!« brüllte er. »Du hast mir die Eier zertreten, du verdammtes Schwein, o meine Eier, mein Gott, meine Eier!«
Ben wich langsam einige Schritte zurück und blieb dann wie angewurzelt stehen. Er war entsetzt über seine Tat, aber zugleich verspürte er eine kolossale Befriedigung. Er wäre vielleicht so lange wie gelähmt dort stehengeblieben, bis Henry sich wieder soweit erholt hätte, um ihn verfolgen zu können, wenn ihn nicht plötzlich ein Stein mit solcher Wucht über dem rechten Ohr getroffen hätte, daß er im ersten Moment glaubte, der Schmerz käme von einem Wespenstich, bis er spürte, daß ihm warmes Blut über die Schläfe rann.
Er drehte sich um und sah Belch und Victor in der Mitte des Baches auf sich zukommen. Beide hatten eine Handvoll Kieselsteine bei sich, und im selben Moment schwirrten die Geschosse auch schon durch die Luft. Zwei Steinen konnte er ausweichen, ein dritter traf ihn am Oberschenkel, ein vierter am linken Backenknochen, und automatisch füllte sich das linke Auge mit Tränen.