Nachdem sie eine besonders große Siedlung ausgehoben hatten, veranstalteten Ko-Ko und die anderen eine Art Party. Sie schleiften die Leichen der Frauen, Kinder und Männer aus der Siedlung auf eine freie Fläche und stapelten sie auf. Es waren dreißig oder vierzig, und alle hatten aufgeschlitzte Bäuche, gespaltene Brustkörbe und zertrümmerte Schädel. Dann warfen sie brennende Äste auf den Leichenberg und zündeten ihn an. Ko-Ko und die anderen tanzten schreiend und brüllend um die brennenden Leichen.
Die dünnen Jäger schleppten Gefangene an. Es waren eine Mutter mit Kind, ein dürrer Junge, der noch so klein war, dass man ihn zu tragen vermochte. Die Jäger hatten sie an einer Klippe umzingelt, wo sie sich hatte verstecken wollen. Dünne und Robuste scharten sich brüllend und kreischend um die Mutter und richteten Stoßspeere auf ihr Gesicht.
Kieselstein hatte den Eindruck, als ob die Mutter wie gelähmt war. Vielleicht stand ein Ausdruck von Schuld in das schmale, vorspringende Gesicht geschrieben. Sie hatte überlebt, während alle anderen gefallen waren, alle außer ihrem kleinen Kind, und sie hatte keine Gefühle mehr.
Ko-Ko trat vor. Mit einer fließenden Bewegung stieß er der Frau den Speer in die Brust. Eine schwarze Flüssigkeit spritzte aus dem Körper. Sie verkrampfte sich – mit dem nur zu vertrauten Geruch des im Todeskampf abgesonderten Kots – und sackte zusammen.
Und das Kind lebte noch. Es klammerte sich wimmernd an seine Mutter und versuchte sogar, noch an der blutigen Brust zu saugen. Und wie eine Chasma-Mutter einst ihre Jungen auf den unglücklichen Elefant angesetzt hatte, schubste nun Harpune, deren Bauch stolz geschwollen war, Glatt auf das Kind zu. Kieselsteins Tochter hatte ein Hackwerkzeug aus Stein. Sie hatte einen so geschmeidigen Körper wie ihre Mutter und wirkte in diesem Moment fiebrig und begierig. Und sie hob den Hackstein über den flachen Kopf des Kindes.
Obwohl er nie einem Kampf aus dem Weg ging, wünschte Kieselstein sich plötzlich, weit weg von hier zu sein, im Sonnenuntergang am Strand zu sitzen oder Maniokknollen auszugraben und nach Hause zu seiner Mutter zu bringen.
Doch am nächsten Morgen war das Feuer heruntergebrannt. Von den Hominiden waren nur noch hautbespannte Skelette übrig, und die verkohlten Leiber waren geschrumpft und wie Embryos verkrümmt. Ko-Ko und Glatt gingen zwischen den schwelenden Überresten umher und zertrümmerten sie mit den Schäften der schweren Stoßspeere.
KAPITEL 11
Mutters Leute
Sahara, Nordafrika, vor ca. 60.000 Jahren
I
Mutter war allein unterwegs, als schlanke aufrechte Gestalt in einer topfebenen Landschaft. Der Boden glühte unter ihren Füßen, und der Staub stach und kitzelte sie. Sie kam zu einer Gruppe Hoodia-Kakteen. Sie ging in die Hocke, schnitt einen etwa gurkengroßen Strunk ab und kaute das feuchte Fleisch.
Sie war nackt, hatte nur einen Gürtel aus Antilopenleder um die Hüfte geschlungen. Das Einzige, was sie bei sich trug, war ein behauener Stein. Ihr Gesicht war durchweg menschlich mit einer glatten, hohen Stirn und einem spitzen Kinn. Doch der Mund war zusammengekniffen, und die tief in den Höhlen liegenden Augen irrlichteten argwöhnisch.
Die sie umgebende Savanne war trocken und trist. Die leere, schattenlose Ebene erstreckte sich in alle Richtungen und löste sich in einem gespenstischen Hitze-Flimmern auf, das den Horizont verschleierte. Die Leere wurde nur von einzelnen zähen Büschen oder den Überresten eines von Elefanten zertrampelten Wäldchens unterbrochen. Es lag nicht einmal mehr Dung herum, weil die großen Pflanzenfresser nur noch selten hier durchkamen und die kleinen, fleißigen Mistkäfer ihr Werk längst getan hatten.
Sie umklammerte den Kaktusstrunk und ging weiter.
Schließlich gelangte sie zum Ufer eines Sees – oder wo das Ufer letztes Jahr gewesen war oder vielleicht das Jahr zuvor. Nun war der Boden ausgetrocknet. Er war eine Schicht aus dunklem, in der Hitze gesprungenem Schlamm, der so hart war, dass er nicht einmal zerbröselte, als sie darauf trat. Hier und da klammerten struppige Grasbüschel sich ans Leben.
Sie beschirmte die Augen mit den Händen. Das Wasser war immer noch da, aber weit von ihrem Standort entfernt. Es war nur ein ferner Schimmer. Doch sogar von hier aus stieg ihr der feuchte Modergeruch eines fast zugewachsenen Gewässers in die Nase. An der gegenüberliegenden Seite des Sees sah sie Elefanten, schwarze Schemen, die sich wie Wolken in der flimmernden Hitze bewegten, und andere Tiere, die sich im Schlamm suhlten – vielleicht Warzenschweine.
Und auf der überwucherten Wasseroberfläche des Sees machte sie Wasservögel aus. Der Schwarm saß friedlich in der Mitte des Sees, wo er vor den hungrigen Räubern des Landes sicher war.
Mutter lächelte. Die Vögel waren genau da, wo sie sie haben wollte. Sie machte kehrt und entfernte sich vom schlammigen Ufer des Sees.
Im Alter von dreißig Jahren war Mutters Körper noch genauso geschmeidig und straff, wie er es in der Jugend gewesen war. Aber der Bauch zeigte Streifen von der Geburt ihres einzigen Kinds, eines Sohnes, und die Brüste hingen herunter. Dafür hatte sie ein pralles Hinterteil; das war eine Anpassung an die langen Dürreperioden, um Wasser im Fett zu speichern. Die Gliedmaßen hatten sehnige Muskeln, und der Bauch war nicht wie bei vielen Leuten durch Unterernährung angeschwollen. Sie war offensichtlich recht lebenstüchtig.
Jedoch vermochte sie sich nicht daran zu erinnern, wann sie zum letzten Mal glücklich gewesen war. Nicht einmal als Kind, als sie unbeholfen gewesen war, wenig geredet und Schwierigkeiten gehabt hatte, sich einzufügen. Nicht einmal als sie einen gesunden, strammen Sohn zur Welt gebracht hatte.
Sie sah zu viel.
Die Dürre zum Beispiel. Die Wolken waren verschwunden, sodass die Sonne den ganzen Tag vom Himmel brannte. Sie trocknete das Land aus und ließ das Wasser verschwinden, sodass die Tiere starben und die Leute wiederum Hunger leiden mussten. Also mussten die Leute wegen der Wolken hungern. Was sie aber nicht wusste, war, weshalb die Wolken überhaupt verschwunden waren. Noch wusste sie es nicht.
Das war ihr Talent: Sie sah Muster und Zusammenhänge, Geflechte von Ursachen und Wirkungen, die sie faszinierten und zugleich verwirrten. Ihre Gabe, Kausalzusammenhänge zu erkennen, verschaffte ihr allerdings keine Lebensfreude. Stattdessen wurde sie von Misstrauen geradezu zerfressen. Aber es half ihr manchmal dabei, durchs Leben zu gehen – so wie heute.
Sie kam zu einem Affenbrotbaum und betrachtete seine knorrigen Äste. Sie wusste, was sie machen wollte: einen Bumerang, eine gekrümmte Wurfwaffe. Also prüfte sie die Äste und Ansätze und suchte eine Stelle, wo die Maserung des Holzes und die Wachstumsrichtung der endgültigen Form der Waffe entsprachen, wie sie sie vorm geistigen Auge sah.
Schließlich fand sie einen schlanken Ast, der geeignet schien. Mit einem Ruck brach sie ihn dicht über dem Punkt ab, wo er aus dem Baum wuchs. Dann setzte sie sich in den Schatten des Affenbrotbaums, schälte mit dem Steinwerkzeug die Rinde ab und bearbeitete das Holz. Dabei drehte sie die steinerne Schneide immer wieder in der Hand, um alle Kanten gleichmäßig zu nutzen. Dieses Werkzeug – das weder eine Axt noch ein Messer oder ein Schaber war – war im Moment ihr Lieblingsutensil. Weil sie jedes Werkzeug, das sie nicht an Ort und Stelle zu fertigen vermochte, hätte transportieren müssen, hatte sie dieses eine Werkzeug für viele Aufgaben gefertigt und es bereits ein paar Mal nachbearbeitet.