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Das Kind hieß Still, denn das war sein hervorstechendes Wesensmerkmal. Zugleich war sie Mutter, weil es manchmal nämlich schien, als ob sie in den Augen der anderen Leute gar keine Identität hätte – wenn überhaupt, wurde sie nur über den Jungen definiert. Also war sie Mutter. Sie hatte ihm wenig zu bieten. Immerhin musste er bei ihr keinen Hunger leiden, der manchen anderen Kindern in dieser Zeit der Dürre schon die Bäuche auftrieb.

Schließlich legte der Junge sich auf die Seite, rollte sich zusammen und steckte sich den Daumen in den Mund. Sie selbst legte sich auf ihre Lagerstatt aus Stroh. Sie wusste aus Erfahrung, dass es keinen Zweck hatte, den Schmerz bekämpfen zu wollen.

Sie war immer schon isoliert gewesen, selbst als Kind. Sie hatte sich weder am Kräftemessen und den anderen Vergnügungen beteiligt, denen die anderen Jugendlichen gefrönt hatten, noch ihre Sexualität entdeckt. Die anderen schienen immer zu wissen, wie sie sich zu verhalten hatten, was sie tun mussten und den richtigen Zeitpunkt zum Lachen und Weinen zu kennen. Sie hatten gewusst, wie man sich einfügte – ein Geheimnis, das sie nie entdeckt hatte. Und ihr dynamischer Einfallsreichtum in einer so beharrenden Kultur und die Angewohnheit, sich Gedanken darüber zu machen, wieso Dinge geschahen und wie sie geschahen, trugen auch nicht gerade zu ihrer Beliebtheit bei.

Im Lauf der Zeit war ihr der Verdacht gekommen, dass die anderen Leute über sie redeten, wenn sie nicht da war, dass sie sich gegen sie verschworen hatten und danach trachteten, sie heimtückisch und hinterhältig ins Unglück zu stürzen. Was das Verhältnis zu ihren Artgenossen auch nicht verbesserte.

Aber es gab auch erfreuliche Momente.

Der Kopfschmerz wollte zwar nicht verschwinden. Aber es war während der Kopfschmerzen, wenn sie die Gebilde sah. Die einfachsten waren Sterne – aber sie waren auch wieder keine Sterne, denn sie loderten gleißend hell auf, bevor sie erloschen. Dann versuchte sie, den Kopf zu drehen und sie zu verfolgen und vielleicht auch zu sehen, woher die nächsten kamen. Doch die Sterne bewegten sich mit den Augen und schwankten wie Schilf in einem See. Und dann erschienen immer mehr Gebilde: Zickzack-Linien, Spiralen, Gitter, Kurven und Parallelen. Selbst in der tiefsten Dunkelheit, wenn der Schmerz sie fast blendete, sah sie die Gebilde. Und wenn der Schmerz dann nachließ, dauerte die Erinnerung an die seltsamen Leuchterscheinungen immer noch an.

Und während sie den Körper zwang, sich zu entspannen, dachte sie an den langarmigen Speer werfenden Schössling, an den kleinen Still, wie er die Zweige unablässig hin und her schob…

Verbindungen.

Schössling versuchte es erneut.

Mit einem gereizten Gesichtsausdruck hakte er den Speer in den gekerbten Stock ein, den Mutter ihm gegeben hatte. Dann nahm er den Speer in die rechte Hand und stützte ihn mit der linken Hand auf der Schulter ab, sodass er mit der Spitze nach vorn wies. Zögernd machte er ein paar Schritte und holte mit dem rechten Arm aus – und der Speer richtete sich auf, die geschwärzte Spitze wies gen Himmel, dann fiel er auf den Boden.

Schössling ließ den bearbeiteten Stock fallen und trampelte darauf herum. »Dumm, dumm!«

Mutter versetzte ihm frustriert einen Schlag gegen den Hinterkopf. »Dumm! Du!« Wieso war er nur so schwer von Begriff? Sie hob den Speer und den Stock auf, drückte Schössling die Gegenstände in die Hand und schloss seine Finger darum, damit er es noch mal versuchte.

Sie hatte den ganzen Morgen daran gearbeitet.

Nach dieser brutalen Migräne war Mutter mit einer neuen Vision im Kopf aufgewacht, einer eigentümlichen Mischung aus Stills ›Stöckchen-Hockey‹ und Schösslings langem, hebelkräftigem Wurfarm. Sie hatte ihren Sohn ignoriert und war ins nahe Wäldchen gerannt.

Bald hatte sie das angefertigt, was ihr vorschwebte. Es war ein kurzer moosbesetzter Stock mit einer Kerbe, die sie in ein Ende geschnitten hatte. Als sie den Speer in die Kerbe legte und den Speer zu werfen versuchte, war der Stock wirklich – wie sie es sich vorgestellt hatte – wie eine Verlängerung des Arms, die ihn sogar noch länger als Schösslings Arm machte, und die Kerbe war wie ein Finger, der den Speer festhielt.

Es gab nur sehr wenige Leute auf dem Planeten, die zu dieser gedanklichen Leistung imstande gewesen wären – eine Analogie zwischen einem Stock und einer Hand herzustellen, einem natürlichen Gegenstand und einem Körperteil. Doch Mutter war dazu in der Lage.

Wie immer, wenn sie ein Projekt wie dieses in Angriff genommen hatte, ging sie vollkommen darin auf, und es war in ihren Augen sogar schade für die Zeit, die sie für Nahrungssuche, -aufnahme und Schlaf aufwandte – sogar für das Zusammensein mit ihrem Sohn.

In lichten Momenten war sie sich aber bewusst, dass sie Still vernachlässigte. Doch Sauer, ihre Tante, kümmerte sich um ihn. Dafür waren alternde weibliche Verwandte schließlich da, um die Last der Kinderaufzucht zu teilen. Trotzdem misstraute Mutter Sauer im tiefsten Innern. Irgendetwas war wirklich in ihr sauer geworden, als sie ihr zweites Kind verloren hatte; obwohl sie selbst eine Tochter hatte, zeigte sie ein Interesse an Still, das schon nicht mehr gesund war. Mutter hatte aber keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, solange sie derartig vom Speerwerfen besessen war.

Sie übte ohne Unterbrechung mit Schössling, während die Sonne durch den Himmel wanderte, und der junge Mann wurde langsam ungehalten. Er war durstig, ihm war heiß, und er hatte sein Tagewerk noch nicht einmal begonnen. Und jedes Mal versagte er.

Schließlich erkannte Mutter, wo das Problem lag. Es war keine Frage der Technik. Schössling begriff das Prinzip nicht, das sie ihm zu zeigen versuchte: dass es nicht die Hand war, die den Wurf ausführte, sondern der Stock. Und bevor er das nicht verstanden hatte, würde er mit dem Katapult nichts anzufangen wissen.

Schössling war einem unflexiblen Schubladendenken verhaftet, das fast noch so starr war wie das seines Ahnen Kieselstein. Er hatte eine hohe soziale Intelligenz; mit den Intrigen, taktischen Allianzen, falschen Versprechen und Verrat wäre er Machiavelli ebenbürtig gewesen. Aber er wandte diese Intelligenz nicht für andere Aktivitäten an, zum Beispiel für die Werkzeugfertigung. Es war, als ob in dieser Hinsicht ein anderes Bewusstsein zugeschaltet würde, ein Bewusstsein, das nicht höher entwickelt war als das von Weit.

Mutter fiel da aber etwas aus dem Rahmen, und das war auch der Grund für ihre Andersartigkeit und das Geheimnis ihres Erfolgs.

Sie nahm ihm das Katapult ab, setzte den Speer in die Kerbe und tat so, als ob sie ihn werfen wolle. »Hand, werfen, nein«, sagte sie und veranschaulichte, wie der Stock den Speer anschob. »Stock, werfen. Ja, ja. Stock. Werfen. Speer. Stock werfen Speer. Stock werfen Speer…«

Stock werfen Speer. Das war vielleicht ein Satz. Aber er hatte eine rudimentäre Struktur – Subjekt, Verb, Objekt –, und ihm gebührte auch die Ehre, einer der ersten Sätze zu sein, der auf der ganzen Welt in menschlicher Sprache gesprochen wurde.

Während sie die Botschaft unablässig wiederholte, zeigte sie allmählich Wirkung.

Grinsend nahm Schössling ihr den Speer und das Katapult wieder ab. »Stock werfen Speer! Stock werfen Speer!« Er steckte den Speer in die Kerbe, schwang den Arm zurück, hielt den Speer über die Schulter und schleuderte ihn mit aller Kraft.

Beim ersten Mal war es ein lausiger Wurf. Der Speer landete im Dreck, weit von der Palme entfernt, die sie eigentlich als Ziel ausgesucht hatte. Aber er hatte das Prinzip verstanden. Aufgeregt plappernd rannte er hinter dem Speer her. Mit einem Anflug von Mutters Besessenheit versuchte er es immer wieder.