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Sie hatte diese Idee wegen ihrer besonderen Fähigkeit entwickelt, den Wurfstock auf mehr als nur eine Art zu betrachten. Er war natürlich ein Werkzeug, aber in der Art und Weise, wie er den Speer hielt, war er auch wie ein Finger – und mit Blick darauf, dass er Dinge zu tun vermochte, nämlich den Speer für einen zu werfen, war er sogar wie eine Person. Wer imstande war, einen Gegenstand aus mehr als nur einem Blickwinkel zu betrachten, vermochte sich vorzustellen, alle möglichen Sachen damit zu machen.

Von allein wäre Schössling wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen. Nachdem er das Konzept aber erst einmal verstanden hatte, setzte er es schnell um; so verschieden war sein Bewusstsein schließlich nicht von ihrem. Als Schössling den großen Wurfstock vorwärts zog, übte der eine so große Kraft auf den Speer aus, dass dieser sich durchbog: Der sich krümmende Speer schien förmlich davon zu springen, wie eine Gazelle, die einer Falle enteilte. Mutters Bewusstsein überschlug sich vor Zufriedenheit und Überlegungen.

»Krank.« Das hässliche Wort platzte in ihre Euphorie. Sauer, ihre Tante, stand vor Mutters Hütte. Sie wies ins Innere.

Mutter rannte über den festgestampften Schmutz zur Hütte. Schon beim Betreten roch sie den beißenden Gestank von Erbrochenem. Still war zusammengekrümmt und hielt sich den aufgeblähten Bauch. Er zitterte, das Gesicht war fahl und schweißnass. Seine Lagerstatt war mit Erbrochenem und Kot verschmiert.

Sauer, die im grellen Licht vor der Hütte stand, grinste mit hartem Gesicht.

Der Todeskampf von Still dauerte einen Monat.

Seine Mutter wäre fast daran zerbrochen.

Ihr instinktives Verständnis der Kausalität versagte. Hier, wo es um Leben und Tod ging, funktionierte nichts. Es gab Krankheiten, die man zu behandeln vermochte. Wenn man sich den Arm oder das Bein brach, wurde es gerichtet und verbunden, wobei es oftmals genauso gut zusammenwuchs wie zuvor. Bei Insektenstichen vermochte man das Gift mit Sauerampfer zu neutralisieren. Aber es gab nichts, was sie gegen diesen seltsamen Verfall zu tun vermochte, für den es nicht einmal ein Wort gab.

Sie brachte ihm Dinge, die er liebte, einen knorrigen Ast, glitzernde Pyritbrocken und sogar einen seltsamen spiraligen Stein, bei dem es sich in Wirklichkeit um einen fossilierten, dreihundert Millionen Jahre alten Ammoniten handelte. Aber er berührte die Sachen nur oder beachtete sie gar nicht.

Und dann kam der Tag, da er sich auf seinem Lager nicht mehr rührte. Sie wiegte ihn und summte leise, wie sie es getan hatte, als er ein kleines Kind war. Aber sein Kopf baumelte. Sie versuchte ihm Nahrung in den Mund zu stecken, aber seine Lippen waren blau, und der Mund kalt. Sie presste diese kalten Lippen sogar an ihre Brust, aber sie hatte keine Milch.

Schließlich kamen die anderen.

Sie wehrte sie ab, in der Überzeugung, dass, wenn sie es nur noch etwas länger versuchte und es noch etwas mehr wollte, er wieder lachte, nach den Katzengold-Brocken griff, aufstand und nach draußen lief. Aber sie war durch seine Krankheit selbst geschwächt, und sie nahmen ihn ihr mit Leichtigkeit ab.

Die Männer hoben außerhalb des Lagers eine Grube im Boden aus. Der schon erstarrende Körper des Jungen wurde dort hineingelegt, und das Loch wurde mit dem ausgehobenen Erdreich hastig wieder zugeschüttet, bis nur noch eine verfärbte Stelle im Boden zu sehen war.

Es war funktional, aber auch schon eine Zeremonie. Die Leute legten ihre Toten seit dreihunderttausend Jahren in den Boden. Anfangs war das eine notwendige Maßnahme der Abfallentsorgung gewesen: Wenn damit zu rechnen war, dass man am selben Ort alt wurde und starb, musste man ihn auch sauber halten. Doch nun lebten die Leute als Nomaden. Mutters Stamm würde bald von hier verschwunden sein. Sie hätten die Leiche des Jungen auch einfach liegen lassen und den Aasfressern überlassen können, den Hunden, Vögeln und Insekten; welchen Unterschied hätte das auch gemacht? Und doch begruben sie ihn, wie sie es immer schon getan hatten. Sie schienen es als richtig zu empfinden.

Aber es wurden keine Worte gesprochen, kein Zeichen gesetzt, und die anderen zerstreuten sich schnell. Der Tod war so absolut, wie er es immer gewesen war, bis zu den Anfängen der Abstammungslinien der Hominiden und Primaten: Der Tod war ein Endpunkt, das Ende der Existenz, und jene, die dahingegangen waren, waren so bedeutungslos wie verdunsteter Tau – selbst ihre Namen waren nach einer Generation vergessen.

Aber nicht so für Mutter. Nein, ganz und gar nicht.

In den Tagen nach dem grausamen Ende und dem schnellen Begräbnis kehrte sie immer wieder an die Stelle zurück, wo ihr Sohn begraben lag. Auch als der ausgehobene Boden die alte Farbe wieder annahm und Gras darüber zu wachsen begann, erinnerte sie sich noch immer genau daran, wo die Ränder des Lochs gewesen waren. Sie vermochte sich vorzustellen, wie er dort unten tief in der Erde liegen musste.

Es gab keinen Grund, weshalb er gestorben war. Das war es, was ihr zu schaffen machte. Wenn sie gesehen hätte, wie er abgestürzt, ertrunken oder von einem Elefanten zertrampelt worden wäre, dann hätte sie gesehen, weshalb er gestorben war, und hätte es vielleicht zu akzeptieren vermocht. Natürlich hatte sie schon Mitglieder des Stamms gesehen, die von Krankheiten befallen worden waren. Sie hatte viele Leute an Ursachen sterben sehen, die niemand zu benennen und schon gar nicht zu behandeln vermochte. Aber das machte es umso schlimmer: Wenn schon jemand sterben musste, wieso ausgerechnet Still? Und wenn er durch eine Laune des Zufalls umgekommen war – wenn jemand, der ihr so nahe stand, so willkürlich aus dem Leben gerissen wurde –, dann konnte ihr das auch passieren, jederzeit und überall.

Das war nicht hinzunehmen. Alles hatte eine Ursache. Und deshalb musste es auch eine Ursache für Sülls Tod geben.

Die Besessenheit ergriff wieder Besitz von ihr, und sie zog sich in sich zurück.

II

Bald nach dem Zeitalter von Kieselstein und Harpune war eine Zwischeneiszeit angebrochen, ein Abschnitt mit einem gemäßigten Klima zwischen den viele Jahrtausende währenden Eiszeiten. Die mächtigen Eiskappen waren geschmolzen und der Meeresspiegel angestiegen, worauf Tiefland überflutet und Küstenlinien neu gezeichnet worden waren. Zwölftausend Jahre nach Kieselsteins Tod neigte dieser Sommer sich aber dem Ende entgegen. Wieder setzte eine starke Abkühlung ein, und das Eis rückte erneut vor. Als das Eis die Feuchtigkeit aus der Luft saugte, schien der Planet einen Schwall trockener Luft auszuatmen. Wälder schrumpften, Grasland breitete sich aus, und die Wüstenbildung verstärkte sich.

Die im mächtigen Regenschatten des Himalaja liegende Sahara war noch keine Wüste. Das Innere war mit großen, flachen Seen durchsetzt – Seen in der Sahara. Diese Gewässer dehnten sich aus, schrumpften und trockneten manchmal ganz aus. In der größten Ausdehnung wimmelten sie jedoch von Fischen, Krokodilen und Flusspferden. Um die Gewässer versammelten sich Strauße, Zebras, Nashörner, Elefanten, Giraffen, Büffel, verschiedene Antilopenarten und Tiere, die der moderne Betrachter nicht als typisch afrikanisch angesehen hätte, beispielsweise Mufflons, Ziegen und Esel.

Wo es Wasser gab, da gab es auch Tiere – und Menschen. Dies war die Umwelt, in der Mutters Leute zu Hause waren. Aber es war nur eine Nische, und das ›Sahnehäubchen‹ des Lebens war klein. Die Leute mussten hart arbeiten, um zu überleben.

Und die Leute waren noch erstaunlich dünn gesät.

Bisher waren die Menschen noch nicht aus Afrika ausgeschwärmt. In Europa und im asiatischen Raum gab es nur die brauenwulstigen Robusten und an manchen Stellen noch die älteren Formen, die dürren Läufer. Amerika und Australien waren noch menschenleer.