Und selbst in Afrika lebten nur wenige Menschen. Die mobile, auf Handel gegründete Lebensweise, die mit Harpune und ihrer Art entstanden war, hatte sich nicht nur als ein Segen erwiesen. Seitdem die Menschen die Wälder verlassen hatten, waren sie anfällig für Trypanosomen, Parasiten, die die Schlafkrankheit verursachten und von den Wolken der Tsetsefliegen übertragen wurden, die die Huftierherden der Savanne begleiteten. Nun breiteten solche Krankheiten sich aus. Die Handelsnetzwerke der Leute hatten sich als sehr effektiv beim Austausch von Gütern, kulturellen Innovationen und Genen erwiesen – allerdings auch bei der Verbreitung von Krankheitserregern.
Und in kultureller Hinsicht tat sich ohnehin nichts.
Kieselstein hätte sich in Mutters Lager wie zu Hause gefühlt. Die Leute schlugen noch immer Splitter von Stein-Kernen ab und wickelten sich Tierhäute um den Körper, die mit Sehnenoder Lederschnüren zusammengebunden wurden. Und die Verständigung war nach wie vor nur ein unartikuliertes Gestammel aus konkreten Wörtern für Dinge, Gefühle und Handlungen, aber nutzlos für die Übermittlung komplexer Informationen.
Über siebenundzwanzigtausend Jahre hatten diese Leute -Menschen mit einem ebenso modernen Bauplan und sogar einem ebenso modernen Gehirn wie die Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts – kaum eine Innovation in Technologie und Technik zustande gebracht. Es war eine Zeit lethargischer Passivität und der Stagnation gewesen. Nach wie vor hatten die Leute nur den Status Werkzeug benutzender Tiere in der Ökologie – wie Biber und Laubenvögel – und standen kaum über den Schimpansen. Und schleichend verloren sie den Überlebenskampf.
Irgendetwas fehlte.
Sie hätte einfach allein im Staub verschwinden können.
Welchen Sinn hatte das Leben noch in einer Welt ohne Still?
Doch dann schüttelte sie die tiefe Niedergeschlagenheit ab.
Sie fing wieder an, Nahrung zu suchen, damit sie etwas zu essen und zu trinken hatte. Das musste sie auch; wenn sie es nicht getan hätte, wäre sie gestorben. Dies war keine reiche Gesellschaft. Obwohl man sich durchaus um die Schwachen, Kranken und Alten kümmerte, vermochte man denen nicht zu helfen, die sich nicht selbst helfen wollten.
Sie war immer schon eine gute Jägerin und geschickte Sammlerin gewesen. Mit den Werkzeugen, die sie erfand, modifizierte und verbesserte, war sie sogar besser als manche Jüngere und Stärkere. Sie erholte sich schnell. Aber die Verwirrung in ihrem Kopf blieb dennoch bestehen.
Sie wusste nicht genau, aus welchem Impuls heraus sie die Zeichen an den Felsen anbrachte.
Es war nicht einmal eine bewusste Handlung. Sie saß mit einem Basalt-Schaber in der Hand neben einem weichen, spröden Sandsteinfelsen; sie hatte gerade eine Ziegenhaut gegerbt. Und da waren fein säuberlich zwei Zickzack-Linien in den Stein gehauen, die parallel zueinander verliefen. Ohne nachzudenken hatte sie den Schaber benutzt; der Schaber hatte die Zeichen gemacht. Also hatte sie die Zeichen gemacht.
Was ihr Interesse weckte, war, dass sie den Linien in ihrem Kopf glichen.
Sie ließ das Lederstück fallen, an dem sie gearbeitet hatte, und kniete aufgeregt vor dem Felsen nieder. Sie drehte den stumpfen Schaber, um eine scharfe Kante zu bekommen, bohrte ihn ins Gestein und zog eine Linie. Sie brachte eine Spirale zustande, die sich im Zentrum ins Nichts kringelte. Sie war aber nicht so sauber und hell wie die Figuren in ihrem Kopf; sie war unbeholfen gezogen, die Linie war uneinheitlich tief, und die Krümmung eckig und unbeholfen.
Also versuchte sie es erneut. Sie hatte immer schon ein Händchen dafür gehabt, Werkzeug aus Stein, Holz oder Knochen zu zaubern. Diesmal war die Spirale etwas fließender, dem Ideal vorm geistigen Auge etwas näher. Und sie versuchte es wieder. Und immer wieder, bis der dröge Felsbrocken mit Spiralen, Schleifen, Schnörkeln und Linien übersät war.
Nun entsprach es genau dem, was sie mit geschlossenen Augen sah. Es mutete sie wundersam an, dass sie fähig war, die gleichen Figuren außerhalb des Kopfs zu erzeugen, die sie im Innern sah.
Später kam sie auf die Idee, es mit Ocker zu versuchen.
Die Leute benutzten noch immer das rote Eisenerz als Kreide, um sich Stammeszeichen auf die Haut zu malen, wie sie es schon in Kieselsteins Tagen getan hatten. Nun experimentierte Mutter mit dem weichen Zeug und stellte fest, dass es auf dem Stein viel einfacher zu handhaben war als ein Schaber. Und man vermochte es auch auf andere Oberflächen aufzutragen. Bald hatte sie Arme und Beine, die Häute, die sie trug oder über ihre Behausung spannte und all ihre Werkzeuge aus Stein, Knochen und Holz mit Schleifen, Schnörkeln und Zickzack-Linien bemalt.
Die nächste Phase ihrer künstlerischen Entwicklung wurde durch die Blume bestimmt.
Es war eine Art Sonnenblume, nichts Besonderes: Die Samen waren nicht essbar, aber auch nicht giftig – es war ein profanes Gewächs. Aber die Blüten umgaben eine schöne gelbe Spirale, die sich zu einem schwarzen Herzen in der Mitte hinabwand. Mit einem Schrei des Erkennens stürzte sie sich auf die Blume.
Danach nahm sie die Formen überall wahr: Spiralen von Muscheln und Tannenzapfen, Gitter von Honigwaben, sogar die gezackten Blitze, die bei Gewittern durch den Himmel zuckten. Es war, als ob die Inhalte ihres Schädels auf die Außenwelt gespiegelt würden.
Es war ein Mädchen, das ihr als Erste nacheiferte.
Mutter sah sie mit einem Kaninchen über der Schulter vorbeigehen – und mit einer roten Spirale auf der Wange, die unter dem Auge auslief. Der Nächste war Schössling mit Wellenlinien an den langen Armen.
Und dann sah sie die Linien und Schleifen überall auftauchen. Sie breiteten sich wie eine Seuche über die Oberflächen des Lagers und die Körper der Leute aus. Wenn sie ein neues Design schuf, ein Gitter oder ein Gebilde aus Kurven, wurde es alsbald kopiert und sogar noch verfeinert – vor allem von den Jungen.
Das verschaffte ihr eine gewisse Genugtuung. Die Leute mieden sie nicht mehr. Sie kopierten sie. Sie war eine Art Führer geworden, was sie zuvor nie für möglich gehalten hätte.
Sauer freute sich allerdings weniger über Mutters neuen Status und hielt Abstand zu ihr. Überhaupt hatten die zwei Frauen seit dem Tod des Jungen kaum noch Notiz voneinander genommen.
Dennoch reichten die Entwürfe, ob von ihr oder von anderen, noch lange nicht an die glühende geometrische Perfektion heran, die ihr lautlos durch den Kopf zog. Sie gelangte fast an einen Punkt, wo sie sich fast wieder den Schmerz zurückwünschte, damit sie sie wieder zu sehen vermochte.
Manchmal machten die Veränderungen in ihrem Bewusstsein ihr Angst. Was bedeutete das? Sie suchte instinktiv nach Verbindungen, wie es ihre Natur war. Welche Verbindung sollte es zwischen einem Lichtblitz im Auge und einem am Himmel dräuenden Sturm aber geben? Verursachte der Sturm das Licht im Kopf, oder war es anders herum?
Das Leben ging weiter, der endlose Zyklus des Atmens, der Nahrungssuche, des Aufgangs von Sonne und Mond, das langsame Altern des Körpers. Mit der Zeit versank Mutter immer tiefer in den seltsamen Sinneswahrnehmungen. Sie sah bald überall Verbindungen. Es war, als ob die Welt von einem Geflecht aus Ursachen durchzogen wäre wie von den Strängen eines riesigen, unsichtbaren Spinnennetzes. Sie hatte das Gefühl, als ob sie und ihre Persönlichkeit sich auflösten.
Doch bei allen Innenansichten klammerte sie sich an die Erinnerung an ihren Sohn, eine Erinnerung, die wie ein nicht enden wollender Schmerz war, wie der Stumpf eines amputierten Glieds.
Und allmählich hatte sie das Gefühl, dass Stills Tod im Brennpunkt all dieser Kausalzusammenhänge lag.
Es wurde eine stillschweigende Vereinbarung getroffen, die Zelte abzubrechen. Die Leute bereiteten sich auf die Fortsetzung der Wanderung vor.