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Sie hielt den Schädel hoch und drehte ihn, sodass sein leerer Blick auf die Leute fiel. Sie schnappten nach Luft und zuckten zusammen, doch die meisten machten eher einen verblüfften als einen ängstlichen Eindruck. Was wollte sie denn mit dem alten Schädel?

Ein Mädchen wandte sich jedoch ab, als ob sie den starrenden Blick des Schädels als anklagend empfände. Sie war eine dünne Vierzehnjährige mit großen Augen und einer intensiven Ausstrahlung. Dieses Mädchen, Augen, hatte sich die Oberarme mit einem besonders kunstvollen Wendeldesign in Ocker verziert. Mutter beschloss, der Kleinen in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Ein Mann trat vor. Er war ein bulliger Typ, reizbar wie ein in die Enge getriebener Stier. Stier deutete also auf Sauers Behausung. »Tot«, sagte er und wies mit seiner Axt auf Mutter. »Du. Kopf, Stein. Wieso?«

Obwohl sie die Lage noch unter Kontrolle hatte, wusste Mutter, dass von dem, was sie nun sagte, ihre ganze Zukunft abhing. Wenn sie aus dem Lager ausgestoßen wurde, würde sie nicht lang überleben.

Aber sie war zuversichtlich.

Sie schaute auf den Schädel und lächelte. Dann deutete sie auf Sauers Verschlag. »Sie töten Jungen. Sie töten ihn.«

Stiers schwarze Augen verengten sich. Wenn es stimmte, dass Sauer den Jungen getötet hatte, dann wäre Mutters Handlungsweise durchaus gerechtfertigt. Von jeder Mutter, selbst von einem Vater, würde man erwarten, ein ermordetes Kind zu rächen.

Doch nun schob Honig sich vor. »Wie, wie, wie?« Sie versuchte sich auszudrücken und ahmte mit wabbelndem Bauch Messerstechen und Strangulieren nach. »Nicht töten. Nicht berühren. Wie, wie, wie? Junge krank. Junge sterben. Wie, wie?« Wie hätte meine Mutter das wohl tun sollen?

Mutter hob das Gesicht zur Sonne empor, die durch einen wolkenlosen, weißblauen Himmel zog. »Heiß«, sagte sie. »Sonne heiß. Sonne nicht berühren. Sie nicht berühren. Sie töten.« Fernwirkung. Die Sonne muss die Haut nicht berühren, um dich zu wärmen. Und Sauer musste meinen Sohn nicht berühren, um ihn zu töten.

Nun lag wirklich Angst auf ihren Gesichtern. Es gab viele unsichtbare, unbegreifliche Todesursachen in ihrem Leben. Die Vorstellung, dass eine Person solche Kräfte zu kontrollieren vermochte, war jedoch neu und Furcht erregend.

Mutter lächelte gezwungen. »Sicher. Sie tot. Sicher nun.« Ich habe sie für euch getötet. Ich habe den Dämon getötet. Vertraut mir. Sie hielt den Schädel hoch und strich über die Hirnschale. »Sag mir.« Und so war es gewesen.

Stier schaute Mutter grimmig an. Er stampfte knurrend auf und richtete die Axt gegen ihre Brust. »Junge tot. Nicht sagen. Junge tot.«

Sie lächelte und legte den Schädel wie den Kopf eines Babys in die Armbeuge. Und als sie sie unschlüssig anschauten, spürte sie, wie ihre Macht größer wurde.

Honig gab sich damit aber nicht zufrieden. Schreiend und unartikuliert plappernd wollte sie sich auf Mutter stürzen. Aber die Frauen hielten sie zurück.

Mutter ging zu ihrer Hütte. Die Leute, an denen sie vorbeikam, wichen mit geweiteten Augen zurück.

III

Die Dürre nahm zu. Ein heißer, wolkenloser Tag folgte dem andern. Das Land dörrte schnell aus, und die Flüsse schrumpften zu bräunlichen Rinnsalen. Die Pflanzen verwelkten, aber wenigstens hatten sie Wurzeln, die man mit Einfallsreichtum und Kraft auszugraben vermochte. Die Jäger mussten auf der Suche nach Fleisch weit ausschwärmen und liefen viele Kilometer über staubigen, sonnendurchglühten Boden.

Es waren Leute, die im Freien lebten, in Einklang mit der Natur und den Elementen. Sie reagierten schon auf die kleinsten Veränderungen in der Welt um sich herum. Und sie alle begriffen schnell, dass die Dürre immer schlimmer wurde.

Paradoxerweise brachte die Dürre ihnen aber einen kurzfristigen Nutzen.

Als die Dürreperiode einen Monat gedauert hatte, brach die Gruppe das Lager ab und marschierte zum größten See in der Gegend, einem großen stehenden Gewässer, das nur in den schlimmsten Trockenzeiten austrocknete. Hier fanden sie die Pflanzenfresser – Elefanten, Rinder, Antilopen, Büffel und Pferde. Vor lauter Durst und Hunger vergaßen die Tiere alles andere um sich herum. Sie scharten sich um den See und drängten zum Wasser. Mit den Füßen und Hufen hatten sie das Seeufer so zertrampelt, dass in dem Morast nichts mehr wuchs. Ein paar Tiere schafften es aber nicht ans Wasser: die Alten, die ganz Kleinen, die Schwachen und alle jene, die die letzten Reserven aufbieten mussten, um diese harte Zeit zu überstehen.

Die Menschen bezogen neben den Aasfressern Position und sondierten die Lage. Es hatten sich noch weitere Gruppen von Menschen eingefunden, sogar andere Arten von Leuten: die brauenwulstigen trägen Gestalten, die man manchmal in der Ferne sah. Aber der See war so groß, dass man sich aus dem Weg gehen konnte und nicht ins Gehege kam.

Für eine Weile hatten sie ein gutes Leben. Sie mussten nicht einmal mehr auf die Jagd gehen; die Pflanzenfresser fielen einfach um, wo sie standen, und man brauchte nur hinzugehen und sich zu bedienen. Die Konkurrenz zu anderen Fleischfresser war nicht allzu groß, denn es gab reichlich für jeden.

Die Leute mussten auch nicht das ganze Tier verwerten: Das Fleisch beispielsweise eines Elefanten wäre verdorben, ehe sie es aufgebraucht hätten. Also nahmen sie sich nur die besten Stücke: den Rüssel, die fettreichen Füße, die Leber, das Herz und das Knochenmark. Den Rest überließen sie den Aasfressern. Manchmal machten sie sich auch über ein Tier her, das noch nicht tot war, aber schon zu schwach, um sich noch zu wehren. Wenn man es am Leben ließ, war das angeschnittene Tier ein Frischfleisch-Depot, aus dem jeder sich bedienen konnte, solang die Beute noch lebte.

Also starben die Tiere und ihr Fleisch wurde verzehrt, die Knochen wurden verstreut und von den überlebenden Artgenossen zertreten, bis der schlammige Rand, der den schrumpfenden See säumte, von weißen Splittern glitzerte.

Aber noch war die Dürre keine Katastrophe für die Leute. Noch nicht.

Mutter war zum See gegangen. Welcher bemerkenswerten inneren Spur sie jetzt auch folgte, sie musste immer noch essen und am Leben bleiben, und das würde ihr nur als Teil der Gruppe gelingen.

Aber das Leben wurde unmerklich leichter für sie.

Kein einziger Grashalm vermochte im Umkreis dieses Schlammlochs zu gedeihen. Mit anhaltender Dürre vernichten die Elefanten und andere Tiere die Bäume in einem immer größeren Radius, sodass die Leute auf der Suche nach Brennholz und Material für Lagerstätten und Hütten immer weiter ausschwärmen mussten.

Mutter bekam Hilfe bei diesen Arbeiten. Augen, das Mädchen mit dem intensiven Blick, auf das Stills Schädel einen solchen Eindruck gemacht hatte, brachte Mutter Holz. Ihre dünnen Arme waren mit dem kratzigen, vertrockneten Zeug beladen. Mutter nahm die Gaben ohne Kommentar an. Später ließ sie es dann zu, dass Augen sich zu ihr setzte und zuschaute, wie sie ihre Zeichen in den Boden kratzte. Nach einer Weile tat Augen es ihr zaghaft nach.

Einer der jüngeren Männer hatte sich in Augens Nähe herumgetrieben. Er war ein langfingriger Junge mit einer seltsamen Vorliebe für Insekten. Dieser Junge, Ameisen-Esser, verhöhnte Mutter und versuchte Augen wegzuziehen. Doch Augen wollte nicht.

Dann rammte Mutter einen langen, geraden Schössling in den Boden und steckte Stills Schädel darauf. Als Ameisen-Esser wieder um Augen herumscharwenzeln wollte, schaute er direkt in Sülls leere Augen und trollte sich wimmernd.

Wo der Schädel fortan Tag und Nacht über sie wachte, schien Mutter noch an Macht und Autorität zu gewinnen.

Bald brachte ihr nicht mehr nur Augen Holz und Wasser, sondern auch ein paar andere Frauen. Und wenn sie zum See hinunterging, machten ihr sogar die Männer widerwillig Platz und ließen ihr den Vortritt, das jüngste Opfer der Dürre anzuschneiden.