Das geschah natürlich alles wegen Still. Ihr Sohn half ihr auf eine subtile, ruhige Art und Weise, die seinem Charakter entsprach. Aus Dankbarkeit legte sie seine Lieblingsspielsachen um die Stange: Katzengold-Brocken und den knorrigen Ast. Sie stellte ihm sogar Nahrung hin – Fleisch von Elefantenkälbern, weich gekocht und von seiner Mutter vorgekaut, wie er es als kleines Kind so gern gehabt hatte. Jeden Morgen war das Fleisch verschwunden.
Sie war aber keine Närrin. Sie wusste, dass Still im streng körperlichen Sinn nicht mehr lebte. Aber er war nicht tot. Er lebte auf eine andere, nicht mit Händen zu greifende Art und Weise weiter. Vielleicht steckte er in den Tieren, die das Essen fraßen, das sie ihm hinlegte. Vielleicht war er in der Lagerstatt, auf die sie sich bettete. Vielleicht lebte er in den Herzen der Leute weiter, die ihr Nahrung brachten. Es spielte keine Rolle, wie er da war. Es genügte, wenn sie wusste, dass der Tod nur eine Phase war: wie die Geburt, das Sprießen der Körperbehaarung, der Verfall des Alters. Man brauchte keine Angst vor ihm zu haben. Der Schmerz, an dem sie gelitten hatte, war verschwunden. Wenn sie im Dunklen allein auf der Lagerstatt lag, fühlte sie sich Still so nah wie damals, als er als Baby an ihrer Brust genuckelt hatte.
Sie war auf jeden Fall schizophren, und vielleicht war sie auch vollkommen verrückt geworden. Aber wer hätte das schon sagen wollen; auf der ganzen Welt gab es nur eine Handvoll Leute wie Mutter, nur ein paar Köpfe, die mit einem solchen Licht erfüllt waren, und wer hätte überhaupt eine Diagnose stellen wollen.
Aber verrückt oder nicht, sie war so glücklich, wie sie es seit langem nicht mehr gewesen war. Und selbst in dieser Zeit der Dürre nahm sie zu. Unter dem Gesichtspunkt des Überlebens war sie erfolgreicher als ihre Artgenossen.
Ihr Wahnsinn – falls es Wahnsinn war – half ihr bei der Anpassung.
Und eines Tages wartete Augen mit etwas Neuem auf.
Augen malte neue Muster auf ein Stück Elefantenhaut. Zuerst waren sie primitiv, ein bloßes Gekritzel aus Ocker und Ruß auf einer staubigen Tierhaut. Augen ließ sich aber nicht entmutigen und versuchte, das in Ocker auf dem Leder abzubilden, was sie in ihrem Kopf sah. Während Mutter sie beobachtete, wurde sie an sich selbst erinnert, an die schmerzlichen früheren Zeiten, als sie versucht hatte, die seltsamen Inhalte aus dem Kopf zu verdrängen.
Und dann verstand sie, was Augen vorhatte.
Auf dieses Stück Elefantenhaut malte Augen ein Pferd. Es war ein einfaches, fast kindliches Bild mit krakeligen Linien und verzerrter Anatomie. Aber es war nicht etwa eine abstrakte Figur wie Mutters Parallelen und Spiralen. Dies war definitiv ein Pferd: Da war der elegante Kopf, der fließende Hals und die wirbelnden Hufe darunter.
Für Mutter war das wieder ein Schlüsselerlebnis, ein Moment, wo neue Verbindungen hergestellt und ihr Kopf neu konfiguriert wurde. Mit einem Schrei ließ sie sich auf den Boden fallen und suchte nach ihrem Ocker und Holzkohle. Erschrocken zuckte Augen zurück; sie befürchtete, etwas falsch gemacht zu haben. Doch Mutter schnappte sich nur ein Stück Leder und kratzte und kritzelte, wie Augen es ihr vorgemacht hatte.
Sie spürte den ersten kribbelnden Anflug der Migräne im Kopf. Aber sie arbeitete trotz der Schmerzen weiter.
Bald hatten Augen und Mutter die Flächen um sich herum, Felsbrocken, Knochen, Tierhäute und selbst den trockenen Staub mit hastigen Zeichnungen springender Gazellen und langhalsiger Giraffen verziert, mit Elefanten, Pferden und Antilopen.
Als andere Leute sahen, was Mutter und Augen taten, waren sie sofort davon fasziniert und versuchten, es ihnen nachzutun. Allmählich breitete die neue Bildkunst sich aus, und durch die ganze kleine Gemeinschaft sprangen ockerfarbene Tiere und flogen rußige Speere. Es war, als ob die Welt mit einer neuen Schicht aus Leben überzogen worden wäre, mit einer Schale des Bewusstseins, die alles veränderte, was sie berührte.
Für Mutter bedeutete das einen Machtzuwachs. Nachdem sie erkannt hatte, dass die Figuren, die sie in ihrem Kopf sah, Entsprechungen in der Außenwelt hatten, wurde es ihr bewusst, dass sie im Brennpunkt des globalen Geflechts aus Kausalität und Kontrolle stand: Als ob das Universum aus Leuten und Tieren, Felsen und Himmel nur eine Abbildung dessen sei, was in ihrer Vorstellung enthalten war. Und nun eröffnete sich ihr mit dieser neuen Technik von Augen eine neue Möglichkeit, diese Kontrolle, diese Verbindungen auszudrücken. Wenn sie das Bild des Pferdes in ihren Kopf einfror und es dann auf einen Felsen oder eine Tierhaut übertrug, wurde sie gleichsam zu seiner Besitzerin – auch wenn das Tier frei über die trockenen Ebenen lief.
Viele Leute fürchteten sich vor den neuen Bildern und denjenigen, die sie anfertigten. Mutter hatte jedoch eine so starke Stellung erlangt, in der sie nicht mehr angreifbar war; der leere Blick des Schädels auf dem Pfahl war eine wirkungsvolle Abschreckung. Doch Augen, ihre engste Jüngerin, war ein leichteres Ziel.
Eines Tages kam sie weinend zu Mutter. Sie war über und über mit Schlamm besudelt, und die komplizierten Muster, die sie sich auf die Haut gemalt hatte, waren verschmiert und abgewaschen worden. Auges sprachliche Fähigkeiten waren bescheiden geblieben, und Mutter musste sich auf ihr weitschweifiges Kauderwelsch konzentrieren, bis ihr klar wurde, was geschehen war.
Es war Ameisen-Esser gewesen, der Junge, der Interesse an Augen gezeigt hatte. Er hatte ihr wieder nachgestellt, und als sie ihrerseits kein Interesse an ihm gezeigt hatte, hatte er sich ihr aufzudrängen versucht. Aber sie wehrte sich. Also zerrte er sie zum See und warf sie ins Wasser, wo er sie mit Schlamm beschmierte und die Muster von der Haut zu entfernen versuchte.
Augen schaute Mutter an, als ob sie wie ein trauriges Kind getröstet und in den Arm genommen werden wollte. Doch Mutter blieb mit hartem Gesicht vor ihr sitzen.
Dann ging sie zu ihrer Lagerstatt und kehrte mit einem scharfen Steinschaber zurück. Sie bedeutete dem Mädchen, den Kopf in ihren Schoß zu legen, und dann stach Mutter ihr den Stein in die Wange. Augen schrie auf und wich verwirrt zurück; dann fasste sie sich an die Wange und schaute entsetzt auf das Blut an den Fingern. Doch Mutter lockte sie wieder zu sich, bedeutete ihr wieder, sich hinzuknien und ritzte ihr erneut die Wange auf – diesmal etwas unterhalb der ersten Wunde. Augen sträubte sich noch etwas, ließ es aber geschehen. Allmählich nahm der Schmerz Überhand, und sie erschlaffte.
Als Mutter mit ihrem Werk fertig war, wischte sie das Blut ab, nahm ein Stück Ocker und rieb den zerbröselnden Stein tief in die frischen Wunden ein. Augen winselte, als die salzige Substanz im Fleisch brannte.
Dann fasste Mutter sie an der Hand. »Komm«, sagte sie. »Wasser.«
Sie führte das widerstrebende und verwirrte Mädchen durch die apathischen Pflanzenfresser zum See hinunter. Sie wateten ins Wasser, wobei sie mit den Füßen in den zähen Schlick des Seebodens einsanken, bis sie knietief im Wasser standen. Sie blieben still stehen, bis die Wellen sich gelegt hatten und das trübe Wasser ruhig und glatt vor ihnen lag.
Mutter bedeutete Augen, nach unten auf ihr Spiegelbild zu schauen.
Augen sah, dass eine hellrote, überm Auge entspringende Wendel sich über die Wange zog. Es tropfte noch immer Blut aus der primitiven Tätowierung. Als sie sich Wasser ins Gesicht spritzte, wurde das Blut abgewaschen, aber die Spirale blieb. Augen schaute groß und grinste, auch wenn die Wunden durch das Verziehen des Gesichts noch mehr schmerzten. Nun verstand sie, was Mutter getan hatte.
Das Tätowieren war eine Technik, die Mutter bereits bei sich selbst angewandt hatte. Es schmerzte natürlich. Aber es war schließlich der Schmerz – der Schmerz im Kopf, der Schmerz wegen des Verlusts von Still –, der den großen Umwälzungen in ihrem Leben den Weg bereitet hatte. Schmerz war gut und musste klaglos erduldet werden. Was wäre besser geeignet gewesen, dieses Kind an sich zu binden?