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Hand in Hand gingen die beiden zum Ufer zurück.

Die Zeit verstrich, ohne dass die unbarmherzige Dürre nachgelassen hätte.

Der See schrumpfte zu einer schlammigen Pfütze inmitten einer Schüssel aus rissigem Schlamm. Das Wasser wurde durch die Exkremente und Kadaver der Tiere verunreinigt – aber die Leute tranken es dennoch, weil sie keine andere Wahl hatten, und viele litten an Durchfall und anderen Beschwerden. Die Tiere wurden weiter dezimiert. Aber es gab kaum noch Frischfleisch, und den Leuten erwuchs eine starke Konkurrenz in den Wölfen, Hyänen und Katzen.

Die Gruppen aus dünnen und brauenwulstigen Leuten starrten sich düster an.

Der Erste, der von Mutters Leuten starb, war ein kleiner Junge. Sein Körper war von der Ruhr ausgezehrt. Seine Mutter weinte über dem kleinen Leichnam, und dann gab sie ihn ihren Schwestern, die ihn in den Boden legten. Aber der Boden war trocken und hart und erschwerte den geschwächten Leuten das Graben. Am nächsten Tag starb wieder jemand, ein alter Mann. Und am übernächsten zwei weitere, diesmal zwei Kinder.

Und nun, im Angesicht des Todes, kamen die Leute zu Mutter.

Sie traten an ihre Lagerstatt mit dem glänzenden Schädel auf dem Pfahl. Sie setzten sich auf den staubigen Boden, schauten auf Mutter, Augen oder auf die Tiere und geometrischen Figuren, die sie überall hineingekratzt hatten. Viele von ihnen folgten Mutters Beispiel und malten sich Spiralen, Wirbel und Wellenlinien auf Gesichter und Arme. Und sie schauten in Stills Augenhöhlen, als ob sie dort die Erleuchtung suchten.

Es war eine Frage des wieso. Mutter hatte ihnen zu erklären vermocht, dass ihr Sohn an einer unsichtbaren Krankheit gestorben war, für die es nicht einmal einen Namen gab; sie war in der Lage gewesen, Sauer als die Frau zu ermitteln und zu bestrafen, die seinen Tod verursacht hatte. Wenn also jemand wusste, wieso diese Dürre sie heimsuchte, dann wäre es Mutter.

Mutter betrachtete diese Versammlung, wobei ihr Kopf zugleich unermüdlich arbeitete, Ideen entwickelte und Zusammenhänge herstellte. Die Dürre hatte eine Ursache; natürlich hatte sie eine. Und hinter jeder Ursache stand eine Absicht, ein Bewusstsein, ob man es sah oder nicht. Und wenn es ein Bewusstsein gab, vermochte man mit ihm zu verhandeln. Schließlich hatte ihr Volk sich bereits seit siebzigtausend Jahren als Händler und Verhandlungspartner bewährt.

Doch wie sollte sie mit dem Regen verhandeln? Was hatte sie ihm anzubieten?

Und überlagert wurden solche Überlegungen vom Argwohn gegen die Leute. Wem vermochte sie überhaupt zu vertrauen? Wer von ihnen redete hinter ihrem Rücken über sie? Selbst jetzt, während sie in einer Art verzweifelter Hoffnung zu ihr aufschauten, verständigten sich nicht ein paar und tauschten mit Gesten, Blicken und Kritzeleien im Staub geheime Botschaften aus?

Schließlich fand sie die Antwort.

Stier, der große jähzornige Mann, der sie wegen des Todes von Sauer in die Mangel nehmen wollte, schloss sich der Runde an. Er war von der Ruhr geschwächt.

Mutter stand plötzlich auf und ging auf ihn zu. Schössling folgte ihr.

Der geschwächte und kranke Stier saß wie ein Häufchen Elend bei den anderen im Schmutz. Mutter legte ihm sachte die Hand auf den Kopf. Er schaute verwirrt auf, und sie lächelte ihn an. Dann bedeutete sie ihm mit einem Winken, ihr zu folgen. Stier stand schwerfällig auf und taumelte benommen. Aber er ließ sich von Schössling zu Mutters Lagerstatt führen. Mutter bedeutete ihm, sich hinzulegen.

Sie nahm einen hölzernen Speer, dessen verkohlte und blutverschmierte Spitze durch häufigen Gebrauch gehärtet war. Sie wandte sich an die Leute und sagte: »Himmel. Regen. Himmel machen Regen. Erde trinken Regen.« Sie schaute zum wolkenlosen Himmelszelt auf. »Himmel nicht machen Regen. Zornig, zornig. Erde trinken viel Regen. Durstig, durstig. Tränken Erde.«

Und mit einer fließenden Bewegung stieß sie Stier den Speer in die Brust. Der bullige Mann verkrampfte sich und umklammerte den Speer. Blut schoss aus dem aufgerissenen Mund, und Urin lief ihm an den Beinen herunter. Dann drehte Mutter den Speer mit aller Kraft und hörte die weichen Organe im Innern reißen. Stier bäumte sich auf und blieb dann reglos auf der Lagerstatt liegen. Mutter zog lächelnd den Speer heraus. Blut strömte auf den Boden.

Es herrschte Stille. Selbst Schössling und Augen starrten mit offenem Mund.

Mutter bückte sich und hob eine Handvoll klebrigen, blutgetränkten Staub auf. »Schaut! Staub trinkt. Erde trinkt.« Und dann stopfte sie die Masse ihrem Kind in den Mund ohne Unterkiefer; die kleinen Zähne färbten sich rot. »Regen kommt«, sagte sie sanft. »Regen kommt.« Dann schaute sie grimmig in die Runde.

Einer nach dem andern schlug unter ihrem Blick die Augen nieder.

Honig, die Tochter von Sauer, brach den Bann. Mit einem Schrei der Verzweiflung hob sie eine Handvoll Steine auf und warf sie auf Mutter. Sie prallten harmlos an ihr ab. Dann rannte Honig zum See hinunter.

Mutter schaute ihr mit hartem Blick nach.

In ihrem Herzen war Mutter von der Richtigkeit ihrer Aussagen und Taten überzeugt. Dass es einem politischen Zweck gedient hatte, den armen Stier zu opfern – er war schließlich einer ihrer größten Widersacher gewesen –, ließ sie freilich nicht am Glauben an sich und ihre Handlungen zweifeln. Stiers Tod war nicht nur opportun gewesen, sondern er würde auch Regen bringen. Ja, genauso war es.

Sie überließ es Schössling, die Leiche wegzuschaffen und ging in ihre Hütte.

Trotz des Opfers blieb der Regen aus. Die Leute warteten einen trockenen Tag nach dem andern, und kein Wölkchen erschien am ausgewaschenen Himmelszelt. Allmählich wurden sie unzufrieden. Insbesondere Honig lästerte immer offener über Mutter, Augen, Schössling und die anderen, die zu ihr hielten.

Doch Mutter saß das einfach aus. Sie wähnte sich nämlich im Besitz der Wahrheit. Es war nur so, dass Stiers Tod den Himmel und die Erde nicht hinreichend besänftigt hatte. Es ging nur darum, das richtige Angebot zu machen, mehr nicht. Sie musste sich nur in Geduld üben, auch wenn sie nur noch Haut und Knochen war.

Eines Tages kam Augen zu ihr. Sie wurde von Ameisen-Esser geführt. Obwohl sie ausgemergelt waren, erkannte Mutter, dass sie sich paaren wollten.

Ameisen-Esser mokierte sich diesmal nicht über sie, sondern flehte sie geradezu an. Und nun war es auch eine Art von Liebe oder Mitleid auf Seiten des jungen Mannes, denn die primitive Tätowierung, die Mutter Augen ins Gesicht geritzt hatte, war durch das stehende Wasser des Sees infiziert worden. Die Wendel war unter der nässenden Fleischmasse, zu der die eine Gesichtshälfte des Mädchens angeschwollen war, kaum noch zu sehen.

Doch Mutter runzelte die Stirn. Diese Paarung wäre nicht richtig. Sie stand auf und entzog dem betrübten Ameisen-Esser Augens Hand. Dann ging sie mit dem Mädchen zwischen den verstreuten Leuten umher, bis sie Schössling fand. Er lag auf dem Rücken und schaute in den Himmel.

Mutter drückte Augen neben Schössling in den Schmutz. Er schaute konsterniert zu Mutter auf. »Du. Du. Ficken. Jetzt«, sagte Mutter.

Schössling schaute auf Augen und versuchte sichtlich, seinen Ekel zu unterdrücken. Obwohl sie bei Mutter viel Zeit zusammen verbracht hatten, hatte er sich in sexueller Hinsicht nie für Augen interessiert; auch nicht, als ihr Gesicht noch nicht so schlimm entstellt war. Und das galt auch für sie.

Doch nun hielt Mutter den Zeitpunkt für gekommen, dass sie sich paarten. Ameisen-Esser wäre der Falsche gewesen; Schössling war der Richtige. Weil Schössling verstand. Sie stand über ihnen, bis Schösslings Hand zur kleinen Brust des Mädchens gewandert war.