Einen Monat nach Stiers Tod wurden die Leute durch ein lautes, schrilles Heulen geweckt. Es war Mutter. Verwirrt kamen sie angerannt, um zu schauen, welche Anwandlung sie nun schon wieder befallen hatte. Überhaupt fürchteten die meisten sich schon vor dieser beunruhigenden Frau in ihrer Mitte.
Mutter kniete neben dem Pfahl, auf den sie den Schädel ihres Kinds gesteckt hatte. Der Schädel lag zersplittert auf dem Boden. Mutter wühlte in den Splittern und klagte, als ob das Kind ein zweites Mal gestorben wäre.
Augen und Schössling hielten sich zurück und warteten auf Anweisungen von Mutter.
Mutter wiegte die kleinen Splitter des zerbrochenen Schädels in der Hand und ließ zornig den Blick über die Leute schweifen. Dann stieß sie die rechte Hand vor und zeigte auf jemanden. »Du!«
Leute wichen zurück. Köpfe drehten sich und folgten ihrer Blickrichtung. Mutter deutete auf Honig.
»Hierher! Kommen, kommen hierher!«
Honigs Doppelkinn schlotterte vor Angst. Sie wollte sich davonmachen, aber die Umstehenden hielten sie zurück. Schließlich trat Schössling vor, packte das Mädchen am Handgelenk und zerrte sie zu Mutter.
Mutter warf ihr die Splitter des Schädels ins Gesicht. »Du! Du werfen Stein. Du zerschmettern Junge.«
»Nein, nein, ich…«
»Du machen Regen nicht kommen«, sagte Mutter mit harter Stimme.
Honig quiekte entsetzt, als ob das womöglich stimmte, und Urin rann ihr an den Schenkeln herunter.
Diesmal musste Mutter sich nicht einmal selbst die Hände schmutzig machen.
Es fing auch am nächsten Tag nicht an zu regnen. Auch nicht am übernächsten. Doch am dritten Tag nach Honigs Opfer ertönte ein Donnergrollen am wolkenlosen Himmel. Die Leute kauerten sich in einem uralten Reflex zusammen, der noch aus der Zeit stammte, als Purga sich in ihrem Bau verkrochen hatte. Doch schließlich kam der Regen und fiel so heftig, als ob der Himmel seine Schleusen geöffnet hatte.
Die Leute rannten lachend umher. Sie legten sich auf den Rücken und ließen es sich in den Mund regnen, oder sie wälzten sich auf dem Boden und bewarfen sich gegenseitig mit Schlamm. Kinder balgten sich, und Babys wimmerten. Und es setzte ein instinktives lustiges Rudelbumsen ein, um das Ende der Dürre und den Neubeginn des Lebens zu feiern.
Mutter saß neben ihrer blutgetränkten Lagerstatt und betrachtete das alles wohlgefällig.
Wie immer dachte sie auf mehreren Ebenen gleichzeitig.
Dass sie Honig geopfert hatte, war wieder ein kluger politischer Schachzug gewesen. Honig war in diesem Sinn zwar keine Konkurrentin gewesen, aber ein Unruheherd, ohne den es Mutter leichter fallen würde, ihre Machtposition zu festigen. Zugleich war dieses Opfer eindeutig notwendig gewesen. Der Himmel und die Erde waren zufrieden gestellt; die ersten Götter der Menschheit waren beschwichtigt und hatten ihre Kinder leben lassen.
Auf einer wieder anderen Bewusstseinsebene war Mutter sich aber bewusst, dass der Regen auch ohne ihr Zutun gekommen wäre. Wenn es nach dem Opfer von Honig nicht geregnet hätte, wäre sie bereit gewesen, weiterzumachen und die Leute einen nach dem andern zu opfern – sie hätte ihren Speer sogar in Augens Herz gestoßen, wenn es hätte sein müssen.
All dieser Dinge war sie sich gleichzeitig bewusst; sie glaubte viele widersprüchliche Dinge auf einmal. Das war die Essenz ihres Genies. Sie lächelte, während das Wasser ihr übers Gesicht lief.
IV
Schössling ging langsam am grasbewachsenen Flussufer entlang. Er trug nur eine um den Körper gewickelte Tierhaut und hatte nicht mehr bei sich als einen über die Schulter gehängten Speer und einen Netzbeutel, der ein paar Knochenwerkzeuge und Utensilien enthielt – aber keine Steinwerkzeuge. Im Bedarfsfall war es einfacher, an Ort und Stelle welche anzufertigen als sie zu transportieren.
Fünfzehn Jahre waren seit dem Tod von Stier und Honig vergangen und seit Mutter faktisch die Führung der Sippe übernommen hatte. Schössling war nun in den Dreißigern. Er war fülliger geworden und die Gesichtszüge härter. Das Haar lichtete sich schon und wurde grau. Die Tätowierungen an den Armen und im Gesicht ließen sich zwar nicht mehr entfernen, aber er hatte Schmutz und Lehm auf der Haut verrieben, damit sie wenigstens nicht so hervorstachen. Über die Jahre hatten die Tätowierungen Fremde provoziert, und das Misstrauen war auch so schon groß genug.
Er machte den Eindruck eines Jägers, der sich weit von seiner Gruppe entfernt hatte und vielleicht etwas Handel treiben wollte. Aber er war nicht allein; andere, die im Unterholz am Flussufer versteckt waren, beobachteten ihn auf Schritt und Tritt. Sein Aufzug war ein raffiniertes Täuschungsmanöver. Und sein Streifzug war alles andere als zufällig. Er war ein Späher.
Er wurde von einem Kind entdeckt, einem pummeligen kleinen Mädchen, das am Wasser mit glatt geschliffenen Kieseln spielte. Das vielleicht fünf Jahre alte Kind war nackt außer einer Perlenkette um den Hals. Es schaute erschrocken auf. Er verzog das Gesicht zu einer grinsenden Fratze. Sie schrie auf und rannte am Flussufer entlang, wie er sich das vorgestellt hatte. Er folgte ihr vorsichtig.
Bald sah er die ersten Anzeichen von Besiedlung. Der schlammige Boden war mit Fußabdrücken übersät, und er sah über den Fluss gespannte Fischernetze. Und hinter einer scharfen Flussbiegung sah er die Siedlung selbst. Aus einer Anzahl annähernd kegelförmiger Hütten stiegen Rauchfäden in den Nachmittagshimmel.
Das war kein vorläufiges Lager, wie er sofort erkannte. Die Hütten waren auf kräftigen Holzpfählen erbaut worden, die man tief in den Boden getrieben hatte. Diese Fluss-Leute waren schon seit einer Weile hier und beabsichtigten offensichtlich auch, hier zu bleiben.
Ein Blick auf den Fluss, und er wusste warum. Ein Stück flussaufwärts war die Vegetation auf beiden Seiten des Wassers niedergetrampelt worden, und er sah schimmernde Steine im Flussbett. Dies war eine Furt, wo wandernde Herden den Fluss durchquerten. Die Leute mussten nicht mehr tun, als darauf zu warten, dass die Tiere ihnen in die Arme liefen. Und wirklich sah er hinter den Hütten einen großen Knochenstapel aufgetürmt, der von Antilopen, Rindern und sogar von Elefanten zu stammen schien.
Am meisten wunderte er sich aber über die Hütten. Sie hatten massive Wände mit einer Rauchabzugs-Öffnung in der Kegelspitze, aber sonst keinen Lichteinlass. Wer sollte wohl in einer solchen Dunkelheit leben?
Zwei Erwachsene rannten auf ihn zu – beides Frauen, wie er sah. Sie hatten normale Holzspeere und Steinäxte und trugen wie er einen Lederumhang. Die Gesichter waren mit primitiven, aber wild aussehenden Ocker-Mustern bemalt, und beide hatten sich Knochen durch die Nasen gestoßen. Eine der Frauen richtete den Speer auf seine Brust. »Fu, fu! Ne hai, ne, fu…!«
Er verstand kein einziges Wort. Aber er hörte, dass dieses unartikulierte Geplapper wie das Kauderwelsch war, mit dem er aufgewachsen war; ihm fehlte die Struktur, die sich bei Mutters Leuten zunehmend ausprägte.
Das wäre eine leichte Übung.
Er rang sich ein Lächeln ab. Dann nahm er langsam den Beutel von der Schulter und ließ ihn auf den Boden fallen. Ohne die Frauen aus den Augen zu lassen, holte er eine Muschel heraus und legte sie vor den Frauen auf den Boden. Dann zog er sich mit ausgebreiteten, leeren Händen zurück. Ja, ich bin ein Fremder. Aber ich bin keine Bedrohung. Ich will Handel treiben. Und das habe ich anzubieten. Schaut, wie schön sie ist…
Die Frauen waren professionell. Eine hielt den Speer auf seine Brust gerichtet, während die andere sich bückte und die Muschel in Augenschein nahm.
Die Muschel hatte das Meer seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen und war seitdem über Langstrecken-Handelsrouten Hunderte Kilometer landeinwärts verschlagen worden. Und dann war sie von einem der besten Künstler der Leute, einem jungen Mädchen mit langen, schlanken Fingern mit einem wunderschönen Elefantenkopf-Muster verziert worden. Als die Frau den Elefantenkopf sah, stockte ihr der Atem. Sie schnappte sich die Muschel und drückte sie an die Brust.