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Nach Jahrtausenden der Stagnation hatte das Bewusstsein sich zu einem mächtigen Kombiwerkzeug gemausert, was sich in der Vielschichtigkeit und der Bedeutungsvielfalt der Kunstgegenstände widerspiegelte – wie Spiegel einer neuen Art von Bewusstsein. Für die Leute mit den hohen Stirnen war dies eine Zeit geistiger Reifungsprozesse.

Und Mutter war auch nicht der einzige Katalysator. Über die ganze Menschheit verstreut gab es noch viele andere wie sie. Jeder dieser Propheten-Genies – falls sie nicht gleich von ihren argwöhnischen Artgenossen getötet wurden – diente als Brennpunkt einer neuen Art des Denkens und einer neuen Lebensweise. Sie waren Fackelträger. Es war der Beginn einer revolutionären Veränderung in der Art und Weise, wie die Menschen mit ihrer Umwelt interagierten.

Es war die Instabilität des Klimas, das diesen neuen Bewusstseins-Typ befördert hatte. Die in einem Maß sich verändernden Umweltbedingungen, wie es in späteren Zeiten nicht mehr vorkam, waren ein Filter: Nur außergewöhnliche Individuen überlebten die außerordentlichen Widrigkeiten und vermochten ihr genetisches Erbe weiterzugeben. Und es stieg nicht nur die Durchschnittsintelligenz, sondern Ausnahmepersönlichkeiten wie Mutter wurden zahlreicher – wie die vorausschauenden ›Technologen‹, die die Fluss-Leute mit dem fortschrittlichen Werkzeugsatz ausgerüstet hatten. Aus der Perspektive der Arten war es nützlich, wenn das Bewusstsein gelegentlich Genies hervorzubringen vermochte. Sie gingen entweder sang- und klanglos unter, oder sie machten vielleicht eine Bahn brechende Erfindung.

Und wenn eine solche Innovation erfolgte, waren die großen Köpfe ihrer Artgenossen auch bereit dafür. Es war, als ob sie sich danach gesehnt hätten. Seit siebzigtausend Jahren hatten die Leute schon die ›Hardware‹ gehabt. Nun lieferten Mutter und andere wie sie die ›Software‹.

Diese neue Vorstellung von der Welt trug bereits reiche Früchte für Mutters Leute. Von der künstlerischen Note einmal abgesehen, war das Lager die übliche Ansammlung aus windschiefen Hütten. Aber das derzeitige Lager war groß; es zählte nun doppelt so viele Leute wie zu der Zeit vor Mutters Erleuchtung. Und es war auch schon lang her, dass jemand vor Hunger hohle Wangen oder einen aufgetriebenen Bauch gehabt hatte. Mutters Weg war erfolgreich.

Mutter sah das Mädchen Finger allein im Schatten eines Affenbrotbaums sitzen. Die erst vierzehnjährige Finger war in die Arbeit an einer neuen Skulptur vertieft, die sie aus einem Stück Elfenbein schnitzte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen und sich einen Lederlappen auf den Schoß gelegt. Mutter machte mit den noch immer scharfen Augen die schimmernden Elfenbeinspäne auf dem Boden um sie herum aus. Sie war es nämlich gewesen, die das exquisite Elefantenkopf-Relief auf der Muschel angefertigt hatte, die Schössling den Fluss-Leuten gegeben hatte.

Finger trug die wendeiförmige Wangen-Tätowierung, die zum Ausweis der Privilegierten geworden war, die Mutter am nächsten standen: die Insignien ihres Priesteramtes. Finger gehörte bereits der zweiten Generation an. Sie war die Tochter von Augen, die schon lang tot war – gestorben an der Infektion durch jene erste primitive Tätowierung. Finger war schon im frühen Kindesalter mit der spiraligen Insignie versehen worden, was man daran sah, dass die Tätowierung durchs Wachstum verzerrt und verblasst war. Es war ein besonderes Ehrenzeichen.

Und das Mädchen wuchs schnell. Mutter wusste, dass sie bald einen Partner für sie würde auswählen müssen, wie sie schon Partner für ihre Mutter, Augen, ausgesucht hatte. Mutter hatte schon ein paar Kandidaten vorgesehen, Jungen und Jungmannen ihrer Priesterkaste. Sie würde dem Instinkt vertrauen, die richtige Wahl zu treffen, wenn die Zeit kam…

Ein Schatten fiel auf sie. Eine Frau näherte sich Mutter zögerlich und mit niedergeschlagenen Augen. Sie war jung, ging aber schon gebückt. Sie hatte eine Hirschkeule mitgebracht, die sie nun vor Mutter auf den Boden legte. »Weh«, sagte die Frau schwach und mit gesenktem Kopf. »Rücken weh. Gehen Kopf hoch, Rücken schmerzen. Heben Baby hoch, Rücken schmerzen.«

Mutter wusste, dass sie erst Anfang Zwanzig war. Jedoch wurde dieses Mädchen von Rückenproblemen geplagt, seit sie sich vor ein paar Jahren leichtsinnigerweise auf einen Ringkampf mit ihrem – viel älteren und viel stärkeren – Bruder eingelassen hatte.

Mutter lehnte fast alle derartigen Bitten ab. Es hätte ihrem Renommee geschadet, wenn sie Wunder auf Bestellung gewirkt hätte, ob sie nun funktionierten oder nicht. Wo sie heute aber das kleine Genie Finger bei der Arbeit gesehen hatte und von der Sonne wohlig gewärmt wurde, war sie quasi in Spendierlaune. Sie schnippte mit den Fingern und bedeutete dem Mädchen, den Lederumhang abzulegen und sich mit dem Rücken zu ihr hinzuknien.

Das Mädchen tat wie geheißen und kniete nackt vor Mutter nieder.

Mutter drehte sich um und nahm eine Handvoll kalter Asche aus der Feuerstelle. Sie spuckte darauf, verrieb das Zeug zu einer dünnen körnigen Paste und hob sie vor Stills knochiges Gesicht, auf dass er sie sah. Dann verrieb sie die Asche auf dem Rücken des Mädchens und murmelte dabei etwas vor sich hin. Das Mädchen zuckte zusammen, als die Asche seinen Körper berührte, als ob sie noch immer heiß wäre.

Als sie fertig war, gab Mutter dem Mädchen einen Klaps aufs Hinterteil und hieß es aufstehen. Mutter wedelte mit dem Finger. »Sei stark. Denke nicht schlecht. Sage nicht schlecht.« Falls die Behandlung anschlug, würde Mutter den Ruhm einheimsen. Falls sie fehlschlug, würde das Mädchen die Schuld bei sich suchen, weil sie unwürdig gewesen sei. So oder so wäre Mutter fein raus.

Das Mädchen nickte nervös. Mutter ließ sie zufrieden ziehen. Sie nahm das Fleisch und schaffte es in die Hütte. Es würde sich später jemand finden, der es für sie garte und aufbewahrte.

Alles zu seiner Zeit.

Nach Mutters rustikaler Behandlung hatte die Patientin wirklich das Gefühl, dass die schlimmen Rückenschmerzen gelindert worden seien. Es war nämlich etwas eingetreten, das man eines Tages als Placebo-Effekt bezeichnen würde: Weil sie an die Wirkung der Behandlung glaubte, fühlte das Mädchen sich besser. Der Umstand, dass der Placebo-Effekt sich auf das Bewusstsein und nicht auf den Körper des Mädchens auswirkte, schmälerte jedoch nicht den Erfolg. Nun war sie in der Lage, sich besser um ihre Kinder zu kümmern, die somit eine bessere Überlebenschance hatten als eine vergleichbare Familie mit einer ungläubigen Mutter, deren Symptome nicht durch ein Placebo gelindert werden konnten – und so würden diese Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit selbst Kinder bekommen, die die Neigung ihrer Großmutter zum Glauben erbten.

Das Gleiche galt für die Jäger. Sie malten seit neustem Bilder der Beutetiere an Felsen und die Lederbespannungen der Hütten. Sie machten Jagd auf diese Malereien, stießen ihnen Speere ins Herz und in den Kopf und versuchten den Tieren sogar begreiflich zu machen, weshalb sie ihr Leben zugunsten der Leute opfern sollten. Mit diesen Ritualen bannten die Jäger die Angst. Obwohl sie bei den tollkühnen Jagdausflügen oft verwundet oder gar getötet wurden, hatten sie eine hohe Erfolgsquote – höher als diejenigen, die es nicht für nötig hielten, sich mit ihrer Beute ins Benehmen zu setzen.

Die im Entstehen begriffenen Menschen waren immer noch Tiere und noch immer den Gesetzen der Natur unterworfen. Es hätte sich keine Veränderung in der Lebensweise durchgesetzt, wenn sie ihnen keinen Anpassungsvorteil im endlosen Überlebenskampf geboten hätte. Die Fähigkeit, an Dinge zu glauben, die überhaupt nicht existierten, war auch ein mächtiges Werkzeug.