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Und Mutter tat halbbewusst ihr Bestes, um diese Neigung zum Glauben zu festigen und zu verbreiten. Indem sie unter ihren Gefolgsleuten Paare zur Fortpflanzung auswählte, erzeugte Mutter eine neue reproduktive Isolation. Deshalb wurden die Abweichungen zwischen den Personen – ›Gläubige gegen Ungläubige‹ – schnell größer und resultierten schon nach einem Dutzend Generationen in markanten Unterschieden in der Chemie und Organisation des Gehirns. Es war der Beginn einer Seuche, die schnell die gesamte Population erfassen sollte.

Doch in der Welt jenseits des Verbreitungsgebiets der Menschen – im nördlichen Europa und im Fernen Osten – fertigten die älteren Arten, die robusten Brauenwulstigen und die schlaksigen Läufer, noch immer ihre einfachen Werkzeuge, sogar die urtümlichen Steinäxte, und lebten ihr Leben nach alter Väter Sitte.

Später sah Mutter das Mädchen wieder. Sie ging nun schneller und längst nicht mehr so gebückt. Sie lächelte und winkte Mutter zu, und die ließ sich dazu herab, das Lächeln zu erwidern.

Am Ende des Tages kehrte Schössling von der Expedition am Fluss entlang zurück. Er war staubbedeckt, überhitzt und durstig. Von allen Artefakten, die er mitgebracht hatte, zeigte er Mutter ein einziges. Es war eine Lampe, die aus dem wundersamen feuergehärteten Lehm gemacht war. Er zündete den Docht an und stellte die Lampe in ihre Hütte, sodass sie das dunkle Innere im schwindenden Tageslicht erhellte. Mutter nickte. Das müssen wir haben. In abgehackten Sätzen schmiedeten sie Pläne.

Mutter fiel jedoch auf, dass Schössling sich irgendwie merkwürdig verhielt. Ihr engster Vertrauter seit dem Tod von Augen verhielt sich ihr gegenüber zwar so respektvoll wie immer. Trotzdem strahlte er eine gewisse Ungeduld aus. Das flackernde Licht der kleinen Lampe verdrängte diese Gedanken aber aus ihrem Kopf.

Schössling führte mit seinen besten Jägern Aufklärung um die Siedlung der Fluss-Leute durch.

Er hatte ihnen erklärt, wie der Angriff durchgeführt werden sollte. Er zeichnete skizzenartige Landkarten in den Staub und markierte mit Steinen den Standort von Hütten und Leuten. Ein Talent für Symbole war vielfältig nutzbar. Rudel-Jäger hatten ihre Angriffe immer schon koordinieren müssen. Wölfe taten das, die großen Katzen taten das, und die Raptoren vergangener Zeitalter hatten das auch schon getan. Aber noch nie war die Planung so sorgfältig und umfassend gewesen wie bei diesen schlauen Hominiden.

Als die Kampfgruppe sich der Siedlung der Fluss-Leute näherte, begegneten sie nur wenigen Tieren. Die Beutetiere lernten diese neuen Jäger mit ihren weit reichenden Waffen und der überlegenen Intelligenz bereits zu fürchten.

Und manche Tiere, wie ein paar Schweine-Arten und Wald-Antilopen, kamen in dieser Gegend schon gar nicht mehr vor, weil sie nämlich von den Menschen ausgerottet worden waren.

Das war natürlich nur ein schwacher Auftakt für die Zukunft.

Nun machten Schössling und seine Leute aber Jagd auf Leute und nicht auf Tiere.

Als sie angriffen, waren die Fluss-Leute chancenlos. Es waren allerdings nicht die Waffen, die den Angreifern zum Vorteil gereichten, auch nicht ihre Anzahl, sondern ihre Einstellung.

Mutters Leute kämpften mit einer Art befreiendem Wahnsinn. Sie kämpften weiter, wenn die Kameraden um sie herum fielen, wenn sie selbst so schwer verwundet wurden, dass sie eigentlich kampfunfähig hätten sein müssen und selbst wenn sie dem Tod ins Auge blickten. Sie kämpften, als wären sie von ihrer Unsterblichkeit überzeugt – was der Wahrheit auch ziemlich nahe kam. Hatte nicht Mutters Kind den Tod besiegt und war in die Steine und den Boden, das Wasser und den Himmel übergegangen und lebte nun bei den unsichtbaren Leuten, die übers Wetter, die Tiere und das Gras herrschten?

Und vom Glauben, dass Dinge oder Waffen, Tiere oder der Himmel in gewisser Weise Leute waren, war es nur noch ein kleiner Sprung zur Überzeugung, dass manche Leute nicht mehr als Dinge seien. Die alten Kategorien hatten keine Gültigkeit mehr. Beim Angriff auf die Fluss-Leute töteten sie keine Menschen, Leute wie sie. Sie töteten Objekte, Tiere, die geringer waren als sie. Die Fluss-Leute hatten trotz ihrer fortschrittlichen Technik wie der Töpferkunst keinen solchen Glauben. Das war eine Waffe, der sie nichts entgegenzusetzen hatten. Dieser kurze, aber barbarische Kampf war der Ursprung einer roten Linie, die sich durch die langen blutigen Zeitalter ziehen sollte, die da kommen würden.

Als es zu Ende war, ging Schössling durch die Ruinen der Siedlung. Er hatte die meisten Männer der Fluss-Leute abschlachten lassen, ob jung oder alt, schwach oder stark. Er hatte aber versucht, ein paar Kinder und jüngere Frauen zu verschonen. Die Kinder würden gezeichnet und im Geiste von Mutter und ihren Gefolgsleuten unterwiesen werden. Die Frauen würde man den kämpfenden Männern geben. Wenn sie schwanger wurden, würde man ihnen die Kinder wegnehmen, es sei denn, sie waren inzwischen auch Gefolgsleute geworden. Er hatte ein paar Leute mit einem Verständnis der Öfen, der Lampen und der anderen tollen Dinge hier ausgesondert; sie würden auch verschont werden, falls sie kooperativ waren. Er wollte, dass seine Leute die Technik der Fluss-Leute erlernten.

Es war wieder einmal eine erfolgreiche Operation, die zum strategischen Wachstum von Mutters Gemeinschaft beitrug.

Als man ihr das Dorf der Fluss-Leute zeigte, war Mutter erfreut und nahm Schösslings Ehrenbezeugung entgegen. Doch wieder sah sie ein Stirnrunzeln bei ihm. Vielleicht tat er sich zunehmend schwer damit, ihre Befehle zu befolgen. Vielleicht sollte dabei mehr für ihn herausspringen. Sie würde sich darüber Gedanken machen und etwas unternehmen müssen.

Aber für solche Maßnahmen war es schon zu spät. Während sie noch den Blick über seine letzte Eroberung schweifen ließ, griff bereits der Tod nach ihr.

Mutter erfuhr nie vom Krebs, der sie innerlich auffraß. Aber sie spürte ihn als einen Klumpen im Bauch. Manchmal stellte sie sich vor, es sei Still, der von den Toten zurückkehrte und sich auf eine neue Geburt vorbereitete. Der Schmerz im Kopf kehrte mit der alten Wucht zurück. Die Lichtblitze zuckten hinter den Augen auf, Zickzack-Linien und Gitter und Sterne, die wie Eiterbeulen aufplatzten. Es wurde schließlich so schlimm, dass sie nur noch im Schein der blakenden Tranfunzel in der Hütte lag und den Stimmen lauschte, die in ihrer großen Hirnschale widerhallten.

Und dann kam Schössling zu ihr. Sie vermochte ihn durch die wabernden Muster kaum zu erkennen. Aber sie musste ihm etwas Wichtiges sagen. Mit der klauenartigen Hand packte sie ihn am Arm. »Hör«, sagte sie.

»Du schlafen«, sagte er in einem Singsang, als ob er zu einem Kind spräche.

»Nein, nein«, widersprach sie mit einer Stimme wie ein Reibeisen. »Nein du. Nein ich.« Sie hob den Finger und tippte sich an den Kopf und auf die Brust. »Ich, ich. Mutter.« In ihrer Sprache war das entsprechende Wort ein gehauchtes ›Ja-ahn.‹

Eine neue Verbindung war hergestellt worden. Nun hatte sie sogar ein Symbol für sich selbst: Mutter. Sie war die erste Person in der Menschheitsgeschichte, die einen Namen hatte. Und obwohl sie ohne ein überlebendes Kind starb, glaubte sie, dass sie die Mutter von ihnen allen sei.

»Ja-ahn«, flüsterte Schössling. »Ja-ahn.« Er lächelte sie verstehend an. Er beugte sich über sie und legte die Lippen auf ihren Mund. Und er hielt ihr die Nase zu.

Als ihre geschwächten Lungen unter dem Todeskuss um Luft rangen, senkte die Dunkelheit sich schnell über sie.

Sie hatte jedem in der Gruppe zugetraut, dass er ihr irgendwann etwas Böses wollte. Jedem außer Schössling, ihrem ersten Jünger. Seltsam, sagte sie sich.