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Eine wachsende Überzeugung, dass hinter jedem Ereignis Absicht steckte – sei es ein böser Gedanke im Bewusstsein eines anderen oder die gütige Laune eines Gottes im Himmel – war bei Geschöpfen mit einem angeborenen Verständnis von Kausalität vielleicht zwangsläufig. Wenn man intelligent genug war, um Kombi-Werkzeuge anzufertigen, gelangte man schließlich auch zu der Überzeugung, dass Götter am Ende aller Kausalketten stünden. Das war natürlich mit Kosten verbunden. Um den neuen Göttern und Schamanen zu dienen, würden die Leute in Zukunft große Opfer bringen müssen: an Zeit, materiellen Gütern und sogar das Recht, Kinder zu haben. Manchmal würden sie sogar ihr Leben opfern müssen. Doch der Lohn dafür war, dass sie keine Angst mehr vorm Tod haben mussten.

Und so fürchtete Mutter sich nicht. Schließlich gingen die Lichter in ihrem Kopf aus, die Bilder verblassten und der Schmerz verschwand.

KAPITEL 12

Der Floss-Kontinent

I

Indonesische Halbinsel, Südostasien, vor ca. 52.000 Jahren

Die beiden Brüder schoben das Kanu vom Flussufer ins Wasser. »Vorsicht, Vorsicht… Weiter nach links. Alles klar, wir haben’s geschafft. Wenn wir uns nun nach rechts halten, glaube ich, dass wir durch diesen Kanal kommen…« Ejan saß vorn im Rindenkanu, sein Bruder Torr hinten. Die beiden Männer waren zwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt; sie waren klein, drahtig und hatten haselnussbraune Haut und schwarzes Haar.

Sie manövrierten das Boot durch einen Wasserlauf, der mit Schilf, Treibgut und angeschwemmten Bäumen verstopft war. Bei den Bäumen, die das Ufer säumten, handelte es sich um Teak, Mahagoni, Karaya und Mangroven. Ein riesiger durchscheinender Vorhang aus Spinnennetzen hing über dem Geäst. Er filterte das Licht und ließ das intensive Grün des Waldes verblassen. Doch überm Fluss lastete die Hitze wie ein riesiger Deckel, und die Luft war von Licht durchflutet. Ejan schwitzte schon stark, und die dichte, feuchte Luft war kaum zu atmen.

Man hätte es kaum für möglich gehalten, dass dies eine Szenerie mitten in der letzten Eiszeit war – zeitgleich wanderten in der nördlichen Hemisphäre Riesenhirsche im Windschatten kilometerdicker Eiskappen.

Schließlich erreichten sie das offene Wasser, sahen aber bekümmert, wie überfüllt es war.

Es herrschte ein dichter Verkehr von Rindenkanus und Einbäumen. Manche Familien fuhren in zwei oder drei Kanus, die sie der Stabilität wegen vertäut hatten. Zwischen diesen Flotten schwammen primitivere Fahrzeuge, Flöße aus Mangroven, Bambus und Schilf. Und es gab auch Fischer, die weder Boote noch Flöße hatten. Eine Frau watete ins Wasser hinaus und erschlug mit einem Paar Stöcken die Fische, die leichtsinnigerweise in ihre Nähe schwammen. Ein paar Mädchen standen bis zur Hüfte im Wasser und hielten quer über den Fluss gespannte Netze, während Gefährten ihnen planschend und spritzend die Fische zu trieben.

Das war ein großer Technologiesprung seit den einfachen Baumstamm-Flößen, die Harpunes Leute einst benutzt hatten. Angelockt vom Reichtum der Küsten, Flüsse und Flussdeltas hatte das erfinderische und rastlose menschliche Gehirn gleich eine ganze Palette an Möglichkeiten ersonnen, das Wasser abzuschöpfen.

Die Brüder manövrierten durch dieses Getümmel.

»Viel los heute«, grummelte Ejan. »Wir können froh sein, wenn’s heute Abend was zu essen gibt. Wenn ich ein Fisch wäre, würde ich sofort Reißaus nehmen.«

»Dann hoffen wir, dass die Fische noch dümmer sind als du.«

Ejan zog das hölzerne Paddel durch und spritzte seinen Bruder nass.

Plötzlich ertönte weiter flussabwärts ein Schrei. Die Brüder drehten sich um, beschirmten die Augen und versuchten etwas zu erkennen.

Durch die dichte Wolke in der Sonne glänzender Insekten machten sie ein Floß aus Mangrovenpfählen aus. Drei Männer standen auf dieser Plattform; sie zeichneten sich als schlanke dunkle Schemen in der feuchten Luft ab. Ejan sah die Ausrüstung in Form von Waffen und Häuten, die sie am Floß verlascht hatten.

»Unsere Brüder«, sagte Ejan aufgeregt. Er riskierte es, im Kanu aufzustehen, im Vertrauen darauf, dass Torr das kleine Boot stabil hielt. Dann winkte er heftig. Als sie ihn sahen, winkten die Brüder zurück und hüpften auf dem Floß herum, sodass es schaukelte. Heute würden die drei auf dem Floß aufs offene Meer hinausfahren und versuchen, die Überfahrt zum großen südlichen Land zu bewältigen.

Ejan setzte sich wieder hin. Die Angst, ins Wasser zu fallen, war wieder stärker als die Freude über den Anblick seiner Brüder. »Ich sage dir, das Floß ist noch immer zu schwach«, murmelte er.

Torr paddelte stoisch vor sich hin. »Osa und die andern wissen schon, was sie tun.«

»Aber die Meeresströmungen und die Gezeiten…«

»Wir haben gestern Abend einen Affen für Ja’an getötet«, erinnerte Torr ihn. »Ihre Seele ist bei ihnen.«

Ich bin es aber, der den Namen der Weisen Frau trägt, sagte Ejan sich unbehaglich, und nicht sie. »Vielleicht hätte ich sie begleiten sollen.«

»Zu spät«, sagte Torr nüchtern. Und er hatte Recht; Ejan sah, dass die drei Brüder sich abgewandt hatten und gleichmäßig flussabwärts auf die Flussmündung zuruderten. »Komm, Ejan«, sagte Torr. »Lass uns fischen.«

Als sie tieferes Gewässer erreicht hatten, nahmen die Brüder das aus Flachs gewobene Netz und ließen es zu Wasser. Die Brüder schwammen so weit auseinander, bis das Netz ausgespannt war, und dann hakte Ejan den großen Zeh in den unteren Rand des Netzes, um es senkrecht zu öffnen. Schließlich zog das Netz sich wie ein ungefähr fünfzehn Meter langer Zaun durch die Strömung. Nun betätigten die Brüder sich als Schleppnetz-Schwimmer.

Das träge fließende, sämig grüne Wasser umschmeichelte warm Ejans Körper.

Nach etwa fünfzig Metern schwammen sie aufeinander zu und schlossen das Netz. Die Ausbeute war nicht groß – die Fische waren heute wirklich verscheucht worden –, aber es waren immerhin noch ein paar dicke Brocken darunter, die sie ins Kanu warfen. Die kleinen Fische warfen sie ins Meer zurück; wieso sollten sie sich mit Kleinkram abgeben, wenn sie es sich leisten konnten, noch ein paar Monate zu warten, um dann einen dicken, ausgewachsenen Fisch an Land zu ziehen. Sie spannten das Netz und schickten sich an, noch einmal flussaufwärts zu schwimmen.

Doch plötzlich ertönte vom Ufer ein Schrei. Es war ein unheimlicher Klagelaut.

»Mutter«, sagte Ejan zu Torr.

»Wir müssen zurück.«

Sie legten das Netz über einen Baumstumpf; es würde schon nicht wegkommen. Dann stiegen sie wieder ins Kanu, wendeten es und stießen es ins Gewirr aus Treibgut, das das Flussufer säumte.

Als sie zum Lager zurückkamen, sahen sie, wie ihre Schwestern ihre traurige Mutter zu trösten versuchten. Die drei Brüder waren noch nicht einmal außer Sichtweite von der Küste gewesen, als eine Flutwelle das zerbrechliche Floß zertrümmert hatte. Keinen von ihnen hatte man seitdem wieder gesehen; sie waren alle drei ertrunken.

Nie wieder würden Osa, Born und Iner ihre Kanus an Ejans vertäuen.

Ejan drängte sich zwischen den Geschwistern zu seiner Mutter durch und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich werde diese Reise machen«, sagte er. »Für Osa und die anderen. Und ich werde nicht dabei sterben.«

Doch seine Mutter, mit zerzaustem ergrauendem Haar und verweinten Augen, klagte nur noch lauter.

Ejan war ein entfernter Nachfahre von Augen und Finger, den Gefolgsleuten der ursprünglichen Mutter von Afrika.

Nach Mutter war der Fortschritt der Menschheit nicht mehr nur auf die Tausendjahres-Schritte der biologischen Evolution beschränkt. Nun entwickelten Sprache und Kultur sich mit der Schnelligkeit der Gedanken und wurden durch Rückkopplung immer komplexer.