Es war ein großer Tag, als Bruder und Schwester das Kanu im Fluss zu Wasser ließen – Ejan am Bug, Rocha am Heck.
Rocha war noch eine unerfahrene Kanufahrerin, und das zylindrische Boot kenterte bei jeder Gelegenheit. Aber es richtete sich genauso schnell wieder auf, und Rocha lernte, ihren Gleichgewichtssinn über die Mittellinie des Kanus zu verlängern, sodass sie und Ejan das Kanu mit leichten Ausgleichsbewegungen zu stabilisieren vermochten. Bald waren sie – zumindest auf dem ruhigen Wasser des Flusses – in der Lage, das Kanu ohne bewusste Anstrengung zu kontrollieren, und mit den Paddeln erzielten sie eine gute Geschwindigkeit.
Nach den Versuchen auf dem Fluss verbrachte Ejan noch mehr Zeit mit der Arbeit am Kanu. Stellenweise war das Holz beim Trocknen geplatzt und gesplittert. Er kalfaterte die schadhaften Stellen mit Wachs und Lehm und behandelte die inneren und äußeren Flächen mit Harz, um ein neuerliches Splittern zu verhindern.
Als das vollbracht war, befand er, dass das Boot für die Meereserprobung bereit sei.
Rocha bestand darauf, ihn zu begleiten. Aber er war skeptisch. Sie hatte zwar schnell gelernt, war aber noch ein ungeübtes und relativ schwaches Kind. Trotzdem respektierte er schließlich ihren Wunsch. Jung oder nicht, sie durfte nach Belieben über ihr Leben verfügen. Das war die ›Geschäftsgrundlage‹ dieser Jäger und Sammler: Aus einer Kultur gegenseitiger Abhängigkeit erwuchs zugleich gegenseitiger Respekt.
Auf der Fahrt flussabwärts standen Fischer auf Flößen und in Kanus auf und schwenkten jubelnd ihre Harpunen und Fischernetze, und kreischende Kinder rannten am Flussufer neben ihnen her. Ejan wurde vor Stolz ganz rot.
Anfangs ging alles glatt. Auch nach dem Passieren der Flussmündung blieb das Wasser ruhig. Rocha plapperte aufgeregt, wie leicht das Meer es ihnen doch machte und wie schnell sie die Überfahrt bewältigen würden.
Ejan sagte aber nichts. Er sah, dass das Wasser vorm Bug des Kanus bräunlich gefärbt und von Pflanzenresten und Schlamm durchsetzt war. Sie waren noch immer im vorgeschobenen Mündungsgebiet, wo das Flusswasser mit dem Meerwasser sich vermischte. Wenn er das Wasser probierte, wäre es wahrscheinlich süß. Es war, als ob sie den Fluss noch gar nicht verlassen hätten.
Und als sie dann doch von der Meeresströmung erfasst wurden, wurde das Wasser – wie Ejan schon befürchtet hatte – plötzlich viel turbulenter, und das simple zylindrische Kanu geriet in kabbelige Kreuzseen. Kaltes Salzwasser schwappte gegen Ejan. Routiniert und koordiniert warfen sie sich auf die Seite, um das Boot aufzurichten, und sie tauchten nach Luft schnappend und durchnässt wieder auf. Doch im nächsten Moment kenterte das Kanu schon wieder. Durch die ständigen Rollen riss die Dummy-Ausrüstung sich los, und Ejan sah die Steine, die er ins Boot gepackt hatte, in der Tiefe versinken.
Als das Boot sich schließlich stabilisierte, sah er, dass Rocha über Bord gegangen war, aber sie tauchte schon wieder prustend und schnaufend auf.
Er wusste, dass das Experiment vorbei war. Er warf den Rest der Steine ins Meer, paddelte mit schnellen Schlägen zu seiner Schwester und barg sie. Dann ruderten sie zur Flussmündung zurück.
Als sie zum Lager zurückkehrten, fiel die Begrüßung verhalten aus. Torr half ihnen dabei, das Kanu ans Ufer zu ziehen, gab sich aber wortkarg. Ihre Mutter war nirgends zu sehen. Sie waren noch nah genug an der Küste gewesen, dass jeder ihre Manöver zu sehen vermochte und schmerzlich daran erinnert wurde, was ihren Brüdern Osa, Born und Iner widerfahren war.
Dennoch dachte Ejan nicht daran, aufzugeben. Er wusste, dass die Überfahrt im Kanu möglich war. Es war nur eine Frage der Fertigkeit und Ausdauer – und er wusste auch, dass die arme Rocha trotz ihrer Entschlossenheit diese Qualitäten noch nicht hatte. Wenn er das südliche Land erreichen wollte, brauchte er einen stärkeren Begleiter.
Also wandte er sich an Torr.
Torr arbeitete selbst an einem Kanu, einer aufwändigen Konstruktion aus vernähter Rinde. Im Moment verbrachte er aber die meiste Zeit mit Nahrungssuche und Jagen. Er hatte vom ständigen Bücken über Büsche und Wurzeln einen Buckel, und die große Wunde an der Brust, die ein Eber ihm zugefügt hatte, heilte nur langsam.
Ejan kam sein Bruder plötzlich viel älter vor. In Torr sah er das bodenständige Verantwortungsbewusstsein, das er von seinem Urgroßvater hatte, der ihm auch seinen Namen gegeben hatte. »Komm mit mir«, sagte Ejan. »Das wird ein großes Abenteuer.«
»Die Überfahrt zu versuchen ist nicht… nötig«, sagte Torr verlegen. »Es gibt hier viel zu tun. Das Leben ist schwerer für uns geworden, Ejan. Wir sind so wenige. Es ist nicht mehr so wie früher.« Er rang sich ein Lächeln ab, aber der Blick war ernst. »Stell dir uns beide in deinem prächtigen Kanu auf dem Fluss vor. Die Mädchen werden auf uns fliegen! Und mir tun die Krokodile jetzt schon leid, die sich die Zähne an unsrem Boot ausbeißen…«
»Ich habe das Kanu nicht für den Fluss gebaut«, sagte Ejan ungerührt. »Ich habe es für das Meer gebaut. Du weißt das. Und es war die Reise zum südlichen Land, wofür unsre Brüder das Leben gelassen haben.«
Torrs Gesicht verhärtete sich. »Du denkst zuviel über unsere Brüder nach. Sie sind fort. Ihre Seelen sind bei Ja’an, bis sie in den Herzen neuer Kinder zurückkehren. Ich habe dir zu helfen versucht, Ejan. Ich habe dir dabei geholfen, den Baumstamm herzubringen. Ich hoffte, durch diese Arbeit würden die schlimmen Träume aus deinem Kopf verschwinden. Aber du bist nun an dem Punkt angelangt, wo du wie deine Brüder bereit bist, dich vom Meer umbringen zu lassen.«
»Ich habe nicht die Absicht, zu sterben«, sagte Ejan. Zorn loderte in ihm auf.
»Und Rocha?«, fragte Torr schroff. »Willst du sie um deines Traums willen in den Tod schicken?«
Ejan schüttelte verblüfft den Kopf. »Wenn Osa noch am Leben wäre, würde er mit mir kommen.« Er schlug auf die Rindenhülle von Torrs neuem Kanu. »Zwei Kanus sind besser als eins. Wenn das Osas Kanu wäre, würde er es an meinem vertäuen, und wir würden Seite an Seite übers Meer fahren, bis…«
»Bis ihr beide ertrunken seid!«, rief Torr. »Ich bin nicht Osa. Und das ist auch nicht sein Kanu.« Erschrocken sah Ejan den Ausdruck von Zorn, Frustration und Angst in seinem Gesicht. »Ejan, wenn wir dich auch noch verlieren…«
»Komm mit mir«, sagte Ejan gleichmütig. »Mach dein Kanu an meinem fest. Gemeinsam werden wir das Meer bezwingen.«
Torr schüttelte heftig den Kopf und vermied es, Ejan in die Augen zu schauen.
Traurig wandte Ejan sich zum Gehen.
»Warte«, sagte Torr leise. »Ich werde nicht mit dir gehen. Aber du kannst mein Kanu haben. Es wird neben deinem fahren. Mein Körper wird hier bleiben und Wurzeln ausgraben.« Nun lächelte er sehnsüchtig. »Aber meine Seele wird dich im Kanu begleiten.«
»Bruder…«
»Komm einfach zurück.«
Dass er auch über Torrs Kanu verfügen durfte, brachte Ejan auf eine Idee.
Das zweite Kanu wäre unbemannt und stattdessen mit Proviant und Ausrüstung beladen. Das bedeutete, dass es leichter wäre als Ejans, und deshalb wäre es unter dem Kriterium der Stabilität auch keine gute Lösung gewesen, die beiden Kanus aneinanderzukoppeln.
Nach ein paar Überlegungen und Versuchen verband Ejan Torrs robustes Rindenkanu über zwei lange Querbalken mit seinem. Durch diese Anordnung wurden die beiden Kanus durch einen offenen Holzrahmen miteinander verbunden, sodass daraus praktisch ein Floß mit den Kanus als Schwimmer resultierte.
Je mehr das Konzept Gestalt annahm, desto begeisterter war er von der Idee. Vielleicht vermochte er mit dieser Neuerung die besten Merkmale der beiden Konstruktionen zu vereinigen. Die Ruderer und ihre Ausrüstung wären sicher im Einbaum untergebracht, anstatt ungeschützt auf einem Floß zu sitzen, und das zweite Kanu würde ihnen zugleich die Stabilität einer großen Floßplattform verleihen.