Jana kam nach Hause. Seine Leute lebten in einer Ansammlung aus Hütten im Schutz eines stark verwitterten Sandsteinkliffs. Überall lagen die Relikte seefahrender Leute herum: Kanus, Katamarane und Flöße waren für die Nacht an den Strand gezogen worden, ein Dutzend Harpunen waren wie ein Zelt gegeneinander gelehnt worden, und überall lagen Haufen halbfertiger oder zerrissener Netze herum.
Auf der freien Fläche in der Mitte der Siedlung hatte man ein großes Gemeinschaftsfeuer aus Eukalyptusstämmen entzündet. Kleinere Feuer brannten in den mit Steinen eingefassten Feuerstellen der Hütten. Man hatte Kochsteine in die großen Feuer geworfen, und Männer, Frauen und ältere Kinder schuppten fleißig Fische ab. Kleine Kinder wuselten überall umher. Sie waren frech und machten viel Lärm, wie Kinder das eben so machen, und waren zugleich ein Band der Sympathie, das alle zusammenhielt.
Jana vermisste aber Agema.
Er nahm die Netzbeutel und ging zur größten Hütte. Agema teilte die Hütte mit ihren Eltern, Groß-Cousins von Janas Eltern und mit ihrer großen Geschwisterschar. Vorm dunklen Eingang der Hütte atmete Jana durch, fasste sich ein Herz und trat ein. Drinnen ging es ziemlich lebhaft zu, und es roch nach Holzrauch, gepökeltem Fleisch, Babys, Milch und Schweiß.
Dann sah er sie. Sie säuberte gerade ein Kind, ein kleines Mädchen mit wuscheligem Haar und rotzverschmiertem Gesicht.
Jana hielt den Netzbeutel hoch. Die darin befindlichen Muscheln glänzten. »Die habe ich dir mitgebracht«, sagte er. Agema schaute auf und verzog den Mund zu einem Lächeln, aber sie wich seinem Blick aus. Das Kind schaute ihn mit großen Augen an. »Das sind die besten, glaube ich. Vielleicht könnten wir…«
Plötzlich schoss ein Fuß aus der Dunkelheit und traf sein verkrüppeltes Bein. Es knickte sofort ein, und er fiel auf den festgestampften Boden. Gelächter erschallte. Dann griff ihm eine starke Hand unter die Achselhöhle und stellte ihn wieder auf die Füße.
»Wenn du sie beeindrucken willst, solltest du nicht zu gehen versuchen – nicht mit so einem Bein. Du solltest wie ein Känguru hüpfen…«
Jana schaute mit knallrotem Gesicht in die tiefen Augen von Osu, Agemas Bruder. Immer mehr Geschwister umringten ihn. Jana versuchte den aufwallenden Zorn zu unterdrücken. »Du hast mir ein Bein gestellt.«
Als Osu den glühenden Zorn in Janas Augen sah, umwölkte sein Gesicht sich. »Ich wollte dir nicht wehtun«, sagte er sanft.
Aber dieses unterschwellige Mitleid machte es nur noch schlimmer. Jana bückte sich, um die Muscheln aufzuheben.
»Warte, ich helfe dir«, sagte Osu.
»Ich brauche deine Hilfe nicht«, sagte Jana schroff. »Sie sind für…«
»Aha. Für meine Schwester?« Osu schaute zu dem Mädchen auf, und Jana sah, dass er blinzelte.
Ein anderer der Brüder, Salo, sehr groß und sehr gut aussehend, trat vor. »Schau, Bursche, wenn du Eindruck bei ihr schinden willst, dann musst du ihr so etwas bringen.« Und er zeigte Jana eine Muschel – ein großer Brocken, den er nur mit zwei Händen zu halten vermochte.
Jana hatte in seinem ganzen Leben als Muschelsammler noch nie eine so große Muschel gesehen. Überhaupt hatte kein lebender Mensch ein so großes Exemplar zu Gesicht bekommen. »Wo hast du die denn gefunden?«
Salo nickte leicht. »Am Strand in einem Abfallhaufen. Ich werde sie wohl als Schüssel benutzen.«
Osu grinste. »Riesenmuscheln, eh? Ejan und Rocha müssen damals gut gegessen haben. Ist natürlich jetzt alles weg… Bring ihr so eine, kleiner Hüpfer, und Agema wird die Beine schneller breit machen, als eine Muschel im Feuer die Schale aufklappt.«
Damit erzielte er wieder einen Lacherfolg. Jana sah, dass Agema das Gesicht verbarg, aber die Schultern bebten. Wieder wallte dieser unbändige Zorn in ihm auf, und Jana wusste, dass er von hier verschwinden musste, ehe er wie ein Kind einen Tobsuchtsanfall bekam – oder noch schlimmer, bevor er einem von diesen unverschämten Brüdern eine knallte.
Er las die Muscheln auf und trat mit aller Würde, die er zu zeigen vermochte, den Rückzug an. Doch selbst im Gehen hörte er noch, wie Osu mit leiser Stimme spottete: »Ich habe gehört, dass sein Schniedel genauso krumm ist wie sein Bein…«
Jana bekam in jener Nacht sehr wenig Schlaf. Doch während er wach lag, schmiedete er einen Plan.
Er stand schon vor der Morgendämmerung auf. Er suchte seine Stricke, die feuergehärteten Speere, den Bogen samt Pfeilen und das Feuerzeug zusammen und schlich sich aus dem Lager.
Dem Flussufer folgend ging er landeinwärts.
Als Jana lautlos über den Kompost auf dem Waldboden schritt, scheuchte er eine Rotte flinker Nager auf. Sie waren eine Art Känguru und schauten ihn mit großen Augen vorwurfsvoll an, ehe sie flohen. Er nahm keine Notiz von ihnen, während er weiterging.
Die meisten Bäume in diesem lichten Flussufer-Wald waren Eukalyptusbäume, die von Streifen halb abgestoßener Rinde umhüllt waren. Diese Bäume, wie auch der größte Teil der Flora, waren entfernte Abkömmlinge der Gondwanaland-Vege-tation, die hier gestrandet war, nachdem dieser Floß-Kontinent vom restlichen Südland abgebrochen war. Und im Wasser des Flusses, von den Bäumen beschattet, kreuzten noch mehr Relikte aus uralten Zeiten. Es handelte sich um Krokodile, die es wie den Eukalyptus hierher verschlagen hatte und die im Gegensatz zu den Bäumen und ihren andernorts lebenden Verwandten sich nicht verändert hatten.
Er kam zu einer Lichtung.
Eine Familie vierbeiniger Kreaturen in der Größe von Rhinozerossen schlurfte umher. Sie hatten kleine Ohren, Stummelschwänze und gingen wie Bären auf flachen Füßen. Sie verwüsteten den Waldboden: Mit den hauerartigen unteren Zähnen gruben sie ihn auf der Suche nach den von ihnen bevorzugten Salzbüschen um. Diese Pflanzen fressenden Beuteltiere waren Diprotodons, eine Art riesiger Wombat.
Es gab hier viele Känguruarten. Die kleineren ernährten sich von Gras und niedrigem Bodenbewuchs. Die größeren waren jedoch viel größer als Jana; diese Riesen waren so groß gewachsen, dass sie das Laub von den Bäumen abzufressen vermochten. Bei der Nahrungssuche schnellten die Kängurus sich mit den Vorderarmen, dem Schwanz und den kräftigen Hinterbeinen vorwärts. Das war eine einzigartige Art der Fortbewegung, bei der die Tiere trotz ihrer Größe irgendwie grazil anmuteten.
Plötzlich drang von der anderen Seite des Waldes ein Brüllen auf die Lichtung. Die Kängurus, groß und klein, wandten sich zur Flucht und hüpften mit ihren elastischen Sprüngen davon. Und dann hoppelte der Urheber des Gebrülls auf die Lichtung. Er sah aus wie ein Löwe, war aber nicht im Entferntesten mit irgendeiner Katze verwandt. Es war ein Thylacoleo, ein Beuteltier wie die Diptrodons und die Kängurus – nur dass diese Beutelkatze ein Fleischfresser war, der wegen identischer Vorlieben und Verhaltensweisen die Gestalt eines Löwen ausgeprägt hatte. Das katzenartige Tier pirschte geschmeidig über die Lichtung und musterte mit kalten Augen die Beute.
Jana bewegte sich langsam am Rand der Lichtung entlang, ohne den Thylacoleo aus den Augen zu lassen.
Während im Rest der Welt die Plazenta-Säugetiere sich durchgesetzt hatten, war Australien zu einem kontinentalen Labor der Beuteltier-Adaption geworden. Es gab Fleisch fressende Säugetiere, die in aggressiven, hocheffizienten Rudeln jagten. Und es gab exotische Kreaturen, wie sie nirgends sonst existierten: große Verwandte des Piatypus, Riesenschildkröten so groß wie Mittelklassewagen und Land bewohnende Krokodile. Und in den Wäldern streiften gewaltige Monitor-Echsen umher. Sie waren mit dem Komodo-Waran verwandt, aber viel größer – ein unheimliches Souvenir aus der Kreidezeit, diese Eintonner-Echsen, die ein Känguru oder einen Menschen am Stück zu verschlingen vermochten.