Jan ging weiter, war aber mit den Gedanken ganz woanders.
Jana und Agema kannten sich schon ihr ganzes Leben lang, wie überhaupt in dieser kleinen Gemeinschaft jeder jeden kannte. Doch erst seit einem Jahr, als er siebzehn geworden war, fühlte er sich zu ihr hingezogen. Dabei wusste er nicht einmal, was er eigentlich an ihr fand. Sie war klein und hatte eine höchstens mittelprächtige Figur mit kleinen Brüsten, die auch nicht mehr größer werden würden, zu breite Hüften und einen entsprechend breiten Hintern, und sie hatte ein Mondgesicht mit einer kleinen Nase und heruntergezogenen Mundwinkeln. Aber sie strahlte eine Ruhe aus wie die Stille des Meeres, wenn man mit dem Kanu weit draußen auf See war – eine Stille, hinter der sich ein wertvoller Mensch verbarg.
Er hatte mit ihr kaum darüber gesprochen. Er hatte mit ihr überhaupt nicht viel gesprochen, seit er vor einem Jahr diese Gefühle für sie entdeckt hatte.
Was ihn aber am meisten schmerzte war, dass Osu und die anderen bräsigen Deppen ihn zu Recht hänselten. Wegen seines Handicaps hielten sie ihn als Ehemann für Agema für ungeeignet. Sie wollten ihre Schwester nur davor bewahren, einen Fehler zu machen. Er wusste, dass das angegriffene Bein ihn im Alltagsleben nicht behinderte und dass es ihn auch nicht daran gehindert hätte, Agema bei der Aufzucht der Kinder zu helfen, die er sich so sehr von ihr wünschte. Nun musste er nur noch sie und ihre Familie davon überzeugen.
Und das würde ihm nie gelingen, wenn er wie ein Kind Muscheln von Steinen kratzte. Er würde ihnen schon eine Jagdbeute präsentieren müssen. Er würde auf Pirsch gehen und eine große Trophäe mitbringen müssen – und er würde das ganz allein tun müssen, um Agema und den anderen zu beweisen, dass er so stark, lebenstüchtig und intelligent war wie jeder andere Mann.
Die Leute ernährten sich hauptsächlich von Kleintieren, die sie im Meer, im Fluss und im Küstenwaldstreifen jagten und sammelten. Davon wurden sie satt, ohne sich großartig anstrengen oder Risiken eingehen zu müssen. Die Jagd auf größere Tiere war im Wesentlichen den Männern vorbehalten – sie war ein Nervenkitzel, bei dem Männer und Jungen die Gelegenheit hatten, Kraft und Geschicklichkeit unter Beweis zu stellen, wie es eben Tradition war. Und genau dieses alte Spiel würde Jana nun spielen müssen.
Natürlich war er nicht so dumm, es allein mit Großwild aufzunehmen. Die größten Tiere konnte man nur in einer gemeinsamen Anstrengung zur Strecke bringen. Eine Beute gab es jedoch, die auch ein einzelner Jäger zu erlegen vermochte…
Er drang immer tiefer in den Wald ein.
Schließlich gelangte er zu einer anderen Lichtung. Und hier fand er, wonach er gesucht hatte.
Er war auf ein aus Blättern aufgeschüttetes Nest gestoßen, in dem ein Dutzend Eier vorsichtig abgelegt worden waren. Was das Nest zu etwas Besonderem machte, war die Größe – Jana hätte wahrscheinlich Platz darin gefunden –, und die Eier, die zum Teil so groß wie Janas Kopf waren. Wenn Purga dieses große Gelege gesehen hätte, wäre sie vielleicht von der Rückkehr der Dinosaurier überzeugt gewesen.
Jana ging daran, eine Falle zu bauen. Er streifte auf der Lichtung umher, bis er die großen Fußabdrücke der Vogel-Mutter fand. Er folgte den Spuren ein Stück in den Wald hinein. Dann spannte er über den Spuren Seile zwischen den Bäumen, nahm die an beiden Enden angespitzten Speere und stieß sie in den Boden.
Dann suchte er trockenes Feuerholz zusammen. Um Feuer zu machen, drehte er mit einem kleinen Bogen einen Stock in der Vertiefung eines Astes und fachte die Flamme mit Zunder an. Als das Feuer kräftig brannte, zündete er Fackeln an und schleuderte sie in den Wald.
Überall, wo die Fackeln landeten, loderten Flammen wie Todesblumen auf.
Vögel flogen kreischend auf und flohen vorm Rauch, und rattenartige kleine Kängurus stoben mit schreckgeweiteten Augen an ihm vorbei. Als er wieder auf der Lichtung angekommen war, hatten die einzelnen Brandherde sich schon zu einer einzigen Feuerwand vereinigt.
Schließlich kam kreischend ein großes zweibeiniges Wesen aus dem Wald gerannt. Es hatte das dunkle Gefieder gespreizt, den langen Hals gereckt, und der Boden schien unter dem Wirbel der muskulösen Beine zu erbeben. Das war ein Genyornis, ein riesiger Entenvogel von der doppelten Größe eines Emus – einer der größten Vögel aller Zeiten. Und Jana sah, dass der Vogel unter Schock stand; die Augen waren geweitet, und der unverhältnismäßig kleine Schnabel klaffte auf.
Und dann verfing der Vogel sich mit den großen Füßen im Seil und stürzte sich durch sein Trägheitsmoment voll in Janas Speer. Er war aber nicht sofort tot. Mit gefesselten Füßen und aus dem Rücken ragenden Speer flatterte der Genyornis mit den nutzlosen Flügelchen. Auf einer tiefen Ebene des Bewusstseins verspürte er eine Art von Bedauern, dass seine entfernten Vorfahren die Kunst des Fliegens an den Nagel gehängt hatten. Und dann kam ein schreiender Hominide angerannt, und eine Axt sauste herab.
Die Flammen breiteten sich aus. Jana musste zusehen, dass er von hier verschwand.
In Australien hatte es natürlich auch vor der Ankunft der Menschen schon Waldbrände gegeben. Vor allem brachen sie in der Monsunzeit aus, wenn es heftige Gewitter gab. In der Folge hatten sich ein paar feuerresistente Pflanzenarten entwickelt. Aber sie waren nicht weit verbreitet und schon gar nicht vorherrschend.
Doch das änderte sich nun. Überall, wohin die Menschen kamen, betrieben sie Brandrodung, um das Wachstum von Nutzpflanzen zu fördern und Jagdwild aufzuscheuchen. Die Vegetation hatte sich bereits angepasst. Die von Natur aus robusten und weit verbreiteten Gräser brannten lichterloh, überlebten das aber. Es hatte sich sogar der Kerzenrinden-Eukalyptus entwickelt, der wie ein ›Brandstifter‹ wirkte: Brennende Rindenstücke wurden abgestoßen und vom Wind über Dutzende Kilometer fort getragen, wo sie dann neue Brände entfachten. Aber auf einen Gewinner kamen hier unzählige Verlierer. Die feuerempfindlichen Hölzer vermochten unter den neuen Bedingungen nicht zu bestehen. Zypressenkiefern, die früher die vorherrschende Baumart gewesen waren, wurden selten. Sogar manche Pflanzen, die den Menschen als Nahrungsquelle dienten, wie ein paar Früchte tragende Sträucher, wurden vernichtet. Und weil der Lebensraum der Tiere abgebrannt wurde, implodierten die Populationen.
Von Ejans ursprünglichem Brückenkopf schwärmten die Leute im Lauf der Generationen immer weiter entlang der Küsten und Flussläufe aus. Es war, als ob eine große Feuer- und Rauchwalze sich von der nordwestlichen Ecke Australiens ins Innere dieses weiten roten Lands fräße. Und vor dieser Front der Vernichtung kapitulierten die alten Lebensformen. Das Verschwinden der Riesenmuscheln war erst der Auftakt der Auslöschung gewesen.
Als Jana den Wald verließ, breitete das lodernde Feuer sich immer noch aus, und Rauchsäulen stießen in den Himmel. Es interessierte ihn aber nicht, welchen Schaden er verursacht hatte.
Er vermochte natürlich nicht den ganzen Vogel mit nach Hause zu nehmen. Aber es ging im Grunde auch gar nicht darum, dass er Nahrung mitbrachte. Und als Jana mit dem aufgespießten Kopf des Genyornis ins Lager zurückkehrte, erhielt er auch seinen Lohn. Osu und die anderen klopften ihm belobigend auf die Schulter – und Agema nahm sein Geschenk scheu entgegen.
III
New South Wales, Australien, vor ca. 47.000 Jahren
Das Rindenkanu verharrte bewegungslos auf dem trüben Wasser des Sees.
Jo’on und seine Frau Leda fischten. Jo’on stand im Boot und hielt den Speer zum Zustoßen bereit. Der Speer hatte eine Spitze aus Wallaby-Knochen, die scharf geschliffen und mit Harz festgeklebt war. Leda hatte eine Leine aus gepresster Rindenfaser gemacht und einen Haken aus einem Muschelstück daran befestigt. Die Haken waren aber spröde und die Leine schwach, sodass Ledas Part darin bestand, am Haken hängende Fische möglichst vorsichtig zum Boot zu ziehen, wo Jo’on sie dann aufspießte.