Also redeten sie unterwegs ohne Unterlass.
In diesem Land war Jahna zu Hause, genauso wie Rood und seine Mutter Jahna vor ihm. Ihre Leute besaßen es – aber nicht als Eigentum, über das man verfügte; sie besaßen es, wie sie ihren Körper besaßen. Jahnas Vorfahren hatten immer schon hier gelebt, über die Generationen hinweg, seit sie aus dem Nebel der Zeit aufgetaucht waren, als sie, so sagte man, aus Feuer und Zauberei ins Leben gesprungen waren. Jahna vermochte sich nicht vorzustellen, woanders zu leben.
Exakt auf halber Strecke der Reiseroute machte die Gruppe halt.
Eine Schneeverwehung hatte sich im Schutz einer Sandsteinklippe aufgetürmt. Rood räumte den Schnee mit schnellen Bewegungen weg und grub eine große Scheibe Narwal-Haut aus, an der noch Fett haftete. Das Fleisch lag schon seit dem letzten Herbst hier, und ein großer Teil war von Füchsen, Möwen und Raben aufgefressen worden. Aber Rood schnitt mit einem scharfen Steinmesser Stücke ab, und bald hatte jeder etwas zu kauen. Das zähe, halbverfaulte Fleisch war eine Delikatesse. Es hatte sogar einen eigenen Namen und bedeutete in etwa so viel wie Fleisch-von-Toten. Es war als Notration hier deponiert worden, für den Fall, dass eine Reisegesellschaft in Not geriet.
Die beiden Knochenkopf-Jungen keuchten und hatten offensichtlich Schmerzen in den Hüften und Beinen. Sie durften sich für eine Weile ausruhen und wurden mit ein paar Fleischbrocken abgespeist.
Die Jäger kamen auf die Prophezeiungen des Schamanen zu sprechen. »Ich hatte einen Traum«, quäkte Klein Millo. »Ich träumte, ich wäre eine große Möwe. Ich träumte, ich fiele ins Meer. Es war kalt. Ein großer Fisch kam und fraß mich. Es war dunkel. Und dann… und dann…«
Die Jäger lauschten andächtig und nickten.
Träume waren wichtig. Jeden Tag standen die Leute vor der Entscheidung, welche Nahrung sie sammeln und welche Tiere sie jagen sollten und ob das Wetter mitspielte. Es war lebenswichtig, die richtige Entscheidung zu treffen; ein paar falsche Entscheidungen und die Familie wäre verhungert. Aber sie hatten spezifisches Wissen über das Land im Kopf, über die Jahreszeiten, die Pflanzen und das Verhalten der Tiere, das sie im Lauf eines Lebens erworben und aus der Erfahrung von Generationen gewonnen hatten. Zudem mussten sie täglich eine Unmenge von Daten erfassen, wie zum Beispiel über das Wetter und Tiermarken. All diese umfangreichen, ungesicherten und kurzlebigen Daten mussten verarbeitet werden und eine schnelle und unumstößliche Entscheidungsfindung unterstützen.
Das Denken der Jäger war infolgedessen eher intuitiv als systematisch und deduktiv. Träume, in denen das Unterbewusstsein die Möglichkeit hatte, alle verfügbaren Daten zu sortieren und auszuwerten, trugen wesentlich zu deren Verarbeitung bei. Und mit ihren Gesängen und Tänzen, Trancen und Ritualen waren die Schamanen die intensivsten Träumer von allen.
Die Übereinstimmung der Visionen und Weissagungen des Schamanen und der Träume von Rood und Millo motivierte die Jäger und stellte ihnen verlässliche Informationen bereit. Es zeigte, dass sie sich in tiefem Einklang und Harmonie mit dem Wesen der Welt befanden.
Trotzdem wirkte Rood besorgt, sagte Jahna sich. »Vater. Wieso machst du so ein Gesicht?«, fragte sie ihn, als er die Knochenköpfe kräftig trat.
Er schaute mit gerunzelter Stirn zu ihr herab. »Es ist dieser Traum von Millo. Das Wasser, die Kälte, die Dunkelheit.
Ja, es kann sein, dass er davon geträumt hat, auf dem Meer zu jagen und Fische zu fangen. Aber…« Er hob den Kopf und sog die Luft ein. »Millo hat eine bessere Nase als du und ich, Tochter. Vielleicht riecht er etwas, das uns entgeht. Aber wir haben eine Aufgabe zu erfüllen – lass uns gehen und zur See fahren.«
Er gab einem Knochenkopf-Jungen einen kräftigen Klaps aufs Hinterteil, worauf der Schlitten sich wieder auf dem gefrorenen Boden in Bewegung setzte. Millo, der auf einem Haufen Schlafsäcke saß, quiekte vor Vergnügen.
Als sie die Küste erreichten, schirrte Rood die beiden Knochenköpfe aus und ließ sie auf dem gefrorenen Boden nach Nahrung suchen. Sie würden nicht die Kraft haben davonzulaufen und schon gar nicht die Cleverness, einen Fluchtversuch auch nur in Erwägung zu ziehen.
Das Meer war zugefroren.
Zu dieser Jahreszeit waren nur die Küstengewässer eisfrei. Aber das Eis war von Spalten durchzogen, von breiten Kanälen aus schwarzem Wasser, die von der Spitze einer Landzunge ausstrahlten. Die Jäger wussten, dass die Risse wegen der Form der Küste jedes Jahr an dieser Stelle entstanden – und genau deshalb waren sie hierher gekommen.
Freudig liefen die Jäger aufs zugefrorene Meer hinaus. Mit den Knochenharpunen in den behandschuhten Händen eilten Jahna und Millo den anderen voraus und hofften, als Erste bei den Robben zu sein.
Jahna wurde von kleinen Gebirgszügen umschlossen, von Hügeln aus Eis, die vier bis fünf Meter hoch aufragten. Schwaden aus Eiskristallen hingen in der Luft, und Möwen kreisten auf der Suche nach Fisch. Die Eisdecke stöhnte und knackte über der mächtigen Dünung, und die Luft wurde von lautem Kreischen durchdrungen. Aber das Eis war zerklüftet: Die Herbststürme und die Gezeiten um die Landzunge hatten Stapel aus großen, zerklüfteten Eisschollen aufgetürmt.
Rood und ein paar andere hatten sich am offenen Wasser versammelt und stießen aufgeregte Rufe aus. Ein Narwal war zum Luftholen aufgetaucht, und vielleicht würden die Jäger einen spektakulären Fang machen.
Millo lief wie eine Möwe kreischend durch das Labyrinth aus Eis. Jahna stolperte hinter ihm her. Sie gelangten an eine Stelle, wo das Wasser mit gräulichem frischem Eis überzogen war. Aber das Eis war von kreisrunden Löchern durchbrochen, die einen bis zwei Schritt durchmaßen.
Millo und Jahna gingen zu einem Loch und spähten hinein. Im kalten Wasser wimmelte es von Leben. Jahna vermochte das winzige Plankton zwar nicht zu sehen, mit dem das Wasser geschwängert war, aber sie sah die kleinen Fische und garnelenartigen Lebewesen, die sich von ihm ernährten. In diesen kalten, trockenen und windigen Zeiten wurde der Staub vom Land weit aufs Meer hinausgetragen und lagerte sich als Eisensalz ab; und durchs Eisen, das im Meer recht selten vorkam, erblühte das Leben.
Und dann packte Millo sie am Arm und deutete geradeaus. Etwas weiter draußen auf dem Meer, in der Nähe eines größeren, mit Matsch überzogenen Lochs, lagen Robben auf dem Eis. Sie waren schlaffe braune, total entspannte Fleischbrocken, in deren Pelz Frost glitzerte. Robben wurden immer von solchen Löchern angezogen, um Luft zu holen oder ein Sonnenbad zu nehmen.
Das war die Gelegenheit für Jahna.
Mit größter Vorsicht schlichen Jahna und Millo sich fast lautlos übers Eis an. Wenn eine Robbe den Kopf hob, erstarrten sie mitten in der Bewegung und duckten sich aufs Eis, bis die Robbe sich wieder entspannt hatte. Inzwischen war ein stöhnender Wind aufgekommen. Jahna kam das zupass. Sie interessierte sich im Moment nicht fürs Wetter; sie hatte nur Augen und Ohren für die Robben. Aber der Wind übertönte die knirschenden Schritte.
Sie waren fast dort, fast so nah, um die nächste Robbe zu berühren. Sie hoben die Harpunen.
Und dann heulte der Wind plötzlich wie ein verwundetes Tier.
Die Robben wurden aus der Dösigkeit gerissen. Sie richteten sich auf, bellten, ließen den Blick schweifen und glitten mit geschmeidiger Eleganz und Schnelligkeit ins Wasser. Millo heulte frustriert und warf trotzdem die Harpune; sie tauchte nutzlos ins Wasser und verschwand.