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An diesem Morgen schien es doch keine so gute Idee mehr zu sein, sich so fern der Heimat hier im Niemandsland herumzutreiben. Doch während sie das Baby hielt, wurde Ultima sich bewusst, dass sie dem Baum fernbleiben musste – entweder das, oder sie würde das Kind verlieren. Sie klammerte sich an diese eine unumstößliche Tatsache.

Ultima und Kaktus setzten die ziellose Wanderung durch die Landschaft fort und entfernten sich immer weiter vom Steinbruch. Wie tags zuvor aßen sie das, was sie gerade fanden -Wasser fanden sie allerdings nicht –, und sie gingen den Ratten-Mäulern und anderen Gefahren aus dem Weg.

Und irgendwann nachmittags, als die Sonne sich schon wieder an den Abstieg vom Himmel begeben hatte, sah Ultima plötzlich die Sphäre wieder.

Sie hatte vergessen, dass sie überhaupt existierte. Und es kam ihr auch nicht in den Sinn, sich zu fragen, wie ein so großes Gebilde von dort, vom Steinbruch wohl hierher gekommen war.

Kaktus zeigte an der Sphäre gar kein Interesse, nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie nicht essbar war. Sie ging missmutig weiter und zupfte sich rote Staubkörner aus dem Pelz.

Mit dem schlafenden Baby im Arm ging Ultima zur Sphäre mit der purpurschwarzen Hülle. Sie beschnüffelte sie und leckte diesmal auch daran. Wieder stieg dieser seltsame Ozon-Geruch ihr in die Nase. Sie verharrte irgendwie unschlüssig. Doch die Sphäre rührte sich nicht.

Plötzlich stieß Kaktus ein Geheul aus und trommelte auf den Boden. Ultima wirbelte herum und ging zugleich in die Hocke. Kaktus’ linkes Bein war irgendwie eingeklemmt, und Blut schoss aus dem Fuß – und Ultima hörte das Brechen von Knochen, als ob das Bein der armen Kaktus von einem großen Maul zermalmt würde.

Aber da war kein Maul zu sehen.

Kaktus wurde weder von Zähnen noch von Klauen malträtiert. Doch wie aus dem Nichts erschienen Schnitte in ihrer Brust und im Torso, aus denen Blut tropfte. Sie wehrte sich noch immer. Sie ließ die Fäuste fliegen und versuchte sogar zu beißen. Sie landete auch Treffer – Ultima hörte ein Klatschen, als die Fäuste auf Fleisch trafen und sah, wie die Luft über Kaktus sich stellenweise veilchenblau verfärbte. Und das Blut zeichnete die Konturen des Angreifers mit roten Spritzern nach. Ultima erkannte einen langen, zylindrischen Torso, Stummelbeine und ein großes, schnappendes Maul.

Kaktus verlor den Kampf. Ihre Beine und der Oberkörper gerieten unter die schimmernde Masse. Sie drehte sich zu Ultima um und streckte die Hand aus.

Ultima verspürte einen instinktiven Widerstreit. Es wäre vielleicht etwas anderes gewesen, wenn sie sich vorzustellen vermocht hätte, wie Kaktus sich fühlte und ihre Todesangst nachempfunden hätte. Jedoch war Ultima dazu nicht in der Lage; Empathie war mit der Menschheit verschwunden, wie so vieles andere auch.

Sie hatte zu lang gezögert.

Die schemenhafte Masse richtete sich auf und brach über Kaktus herein. Ein Blutschwall schoss ihr aus dem Mund.

Ultimas Schock verflog. Mit einem entsetzten Quieken drehte sie sich um und drückte das Kind an die Brust. Mit den Füßen und der freien Hand stob sie über den staubigen Grund. Sie rannte immer weiter, bis sie einen erodierten roten Felsvorsprung erreichte.

Sie warf sich auf den Boden und schaute zurück. Kaktus rührte sich nicht mehr. Ultima sah nichts mehr von dem riesigen transparenten Ding, das sie getötet hatte. Dafür waren wie aus dem Nichts neue Kreaturen aufgetaucht. Sie sahen aus wie Frösche mit breiten Leibern, lederartiger Amphibienhaut, mit Klauen besetzten Zehen-Füßen und großen Mäulern mit nadelspitzen Zähnen zum Reißen und Stechen. Einer hatte bereits Kaktus’ Brust geöffnet und labte sich an den noch immer warmen inneren Organen.

Der unsichtbare Räuber hatte seine Arbeit erledigt. Er lag erschöpft in einer Lache von Kaktus’ Blut. Er war sogar zu schlapp zum Fressen und ließ sich von seinen gierigen Sprösslingen füttern. Man sah, wie das Fleisch von den Zähnen zerkleinert und durch den Schlund in den Magen transportiert wurde, wo es durch Verdauungsprozesse absorbiert und umgewandelt wurde.

In einer leeren und verwitterten Welt war die fehlende Deckung fatal. In einer Landschaft so flach wie ein Bügelbrett vermochte man einfach keinen tonnenschweren Salamander zu verstecken, selbst wenn man ihm einen roten Anstrich verpasst hätte wie das Gestein. Deshalb waren die meisten großen Tiere im Wettbewerb mit ihren kleineren Verwandten unterlegen und bald verschwunden.

Doch diese Kreaturen hatten eine neuartige Strategie angewandt: die ultimative Tarnung. Die Umstellung hatte Dutzende Jahrmillionen gedauert.

Unsichtbarkeit – oder zumindest Transparenz – war eine Strategie, die in früheren Zeiten schon manche Fische angewandt hatten. Es handelte sich um einen transparenten Ersatz für die meisten körpereigenen Biochemikalien. So musste zum Beispiel ein Ersatz für Hämoglobin gefunden werden, den roten Blutfarbstoff, der den lebenswichtigen Sauerstoff durch den Körper transportierte.

Natürlich gelang es keinem Landbewohner, sich wirklich unsichtbar zu machen. Selbst in diesen trockenen Zeiten waren die Tiere im Grunde genommen Wasserbeutel. Wären sie von Wasser umgeben gewesen – wie diese lang ausgestorbenen Fische –, hätten sie allerdings einen Zustand annähernder Unsichtbarkeit zu erreichen vermocht. Das Licht bewegte sich jedoch verschieden durch Luft und Wasser; an der Luft hatten die Endzeit-›Unsichtbaren‹ Ähnlichkeit mit großen Wassersäcken, die auf dem Boden lagen.

Trotzdem funktionierte es ganz gut. Solang man sich ruhig verhielt, war man kaum wahrzunehmen – höchstens als ein dunstiger Schemen oder ein schwaches Wabern, das man leicht mit vor Hitze flimmernder Luft verwechseln konnte. Man vermochte sich an einen Felsen zu schmiegen, sodass man der Beute nur die unschärfsten Konturen darbot. Und der transparente Pelz, der an Glasfaserstränge erinnerte, spiegelte die Hintergrundfarbe wider, was zur weiteren Verwirrung der Beute beitrug.

Dennoch hatten nur wenige Spezies sich diese Strategie zu Eigen gemacht, weil Unsichtbarkeit auch ihre Nachteile hatte.

Ein unsichtbares Lebewesen war zugleich blind. Eine transparente Netzhaut vermochte kein Licht aufzufangen. Das größte Manko war aber die stark verringerte Effizienz der Biochemie solcher Lebewesen, was durch die Verwendung transparenter Substanzen bedingt war. Und es gab nicht einmal für die innersten Körperteile Schutz vorm grellen Licht, der Wärme und ultravioletten Strahlung der Sonne und vor der kosmischen Strahlung, die den Planeten trotz des schützenden Magnetfelds immer bombardiert hatte. Die Organe der Unsichtbaren waren transparent, aber auch nicht so durchlässig, um die schädliche Strahlung durchzulassen.

Kaktus’ Mörder war schon im Todeskampf, und bald würden die Krebsherde, die sich im transparenten Magen-Darm-Trakt entwickelten, ihn umbringen. Und er war neoten – er würde sterben, ohne jemals in die Pubertät eingetreten zu sein. Niemand von der unsichtbaren Art hatte so lang gelebt, um für Nachwuchs zu sorgen – freilich hätten sie wegen des Strahlungsgeschädigten Erbguts auch gar keinen lebensfähigen Nachwuchs hervorzubringen vermocht.

Diese schwächlichen, von Geburt hilflosen Kreaturen waren schon todgeweiht, ehe sie aus dem Ei schlüpften.

Aber darauf kam es nicht an; jedenfalls nicht unter dem genetischen Aspekt, denn die Familie profitierte davon.

Diese amphibische Spezies hatte einen Kompromiss geschlossen. Die meisten ihrer Jungen wurden geboren wie eh und je. Doch eins von zehn wurde unsichtbar geboren. Wie die sterilen Arbeiter in einem Stock lebten die Unsichtbaren ein kurzes, schmerzhaftes Leben und starben jung – für einen einzigen Zweck: Nahrung für ihre Geschwister zu beschaffen. Durch sie – durch ihre Nachkommen, nicht durch seine – würde das genetische Erbe des Unsichtbaren weitergegeben.