Das Leben war immer schon ein Glücksspiel gewesen. Und nun hatte es Mittel und Wege gefunden, sogar dem ultimativen Auslöschungs-Ereignis ein Schnippchen zu schlagen. In neuen Meeren und in einem unbekannten Land hatte die Evolution wieder begonnen.
Aber es entstand keine neue Menschheit.
Die erschöpfte und staubbedeckte Ultima, deren Körper von unzähligen kleinen Kratzern, Prellungen und Einstichen übersät war, humpelte mit ihrem Kind im Arm zum Zentrum des uralten Steinbruchs.
Das Land wirkte wie platt gehämmert, und die Sonne dräute wie eine riesige glühende Faust über ihm. Auf den ersten Blick gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass auf dieser Wüsten-Welt überhaupt noch Leben existierte.
Sie näherte sich dem Baum. Sie sah die großen schwarzen Gebilde der eingekapselten Leute am Baum hängen. Er stand stumm und starr da; weder tadelte er sie wegen des ›unerlaubten Entfernens‹ noch verzieh er ihr.
Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie suchte eine Kugel aus Blättern. Vorsichtig drückte sie die Blätter auseinander und formte sie zu einer provisorischen Wiege. Dann legte sie das Baby vorsichtig hinein.
Das Baby zappelte gurgelnd. Es fühlte sich wohl hier in den Blättern und war froh, wieder zurück im Baum zu sein. Und Ultima sah, wie sich die Wurzel wieder in die Öffnung im Bauch des Kindes schob. Und weiße Tentakel wuchsen aus den Poren der weichen Blätter und strebten auf Mund, Nase, Ohren und Augen des Babys zu.
Es würde keinen Schmerz verspüren. Dieses Wissen und diesen Trost hatte der Baum Ultima immerhin gewährt. Sie strich dem Baby ein letztes Mal über die pelzige Wange. Dann schob sie ohne Bedauern die Blätter zusammen und versiegelte sie.
Sie erklomm den Baum und fand ihren eigenen behaglichen Kokon. Dann kuschelte sie sich hinein und legte ordentlich die großen lederartigen Blätter um sich herum. Hier würde sie auf bessere Zeiten warten: auf einen Tag, der wie ein Wunder kühler und feuchter war als alle anderen, auf eine Zeit, wo der Baum imstande war, Ultima aus seiner schützenden Umarmung zu entlassen und sie wieder in die Welt hinauszuschicken – und ihr vielleicht sogar den Keim für eine neue Generation in den Bauch zu pflanzen.
Aber es sollte keine Befruchtung mehr geben, keine Geburt und kein zum Tode verurteiltes Kind.
Einer nach dem andern würden die Kokons schrumpfen und die grün verpackten Bewohner würden wieder von der Masse des Borametz absorbiert werden, und am Ende würde der Borametz nach vielen tausend Jahren natürlich selbst vergehen, nachdem er bis zum bitteren Ende durchgehalten hatte. Der leuchtende molekulare Strang – der von Purga ausgehend über unzählige Generationen von Lebewesen sich erstreckt hatte, die aus primitiven Anfängen sogar den Sprung auf eine andere Welt geschafft und dann wieder tief gestürzt waren – riss nun, als die letzte von Purgas Enkeltöchtern mit einer Situation konfrontiert wurde, die sie nicht zu bewältigen vermochte.
Ultima war die letzte Mutter gewesen. Sie vermochte nicht einmal ihr eigenes Kind zu retten. Aber sie hatte ihren Seelenfrieden gefunden.
Sie strich über die Bauch-Wurzel und half ihr dabei, den Weg in ihren Bauch zu finden. Die anästhesierenden und heilenden Chemikalien beruhigten den schmerzenden Körper und schlossen die Blessuren. Und als psychotrophe pflanzliche Substanzen die lebendige Erinnerung an ihr verlorenes Baby wegspülten, wurde sie mit einem scheinbar immerwährenden grünen Frieden erfüllt.
Es war eigentlich kein schlechtes Ende für eine so lange Geschichte.
EPILOG
Es war wieder eine andere Bande wilder Kinder gesichtet worden, diesmal auf der Bartholomäus-Insel. Also hatten Joan und Lucy die Netze, Taser und Hypo-Flinten zusammengepackt und schipperten nun in ihrem Solarboot über den Pazifik.
Joans pockennarbige Haut leuchtete im Widerschein des gleichmäßigen äquatorialen Sonnenlichts, das vom Wasser reflektiert wurde. Sie war nun zweiundfünfzig, sah aber deutlich älter aus wegen der Schäden, die die Umwelt seit Rabaul an der Haut angerichtet hatten; vom Haar ganz zu schweigen. Lucy war im Verlauf ihres noch kurzen Lebens aber nur sehr wenigen ›richtig‹ alten Leuten begegnet, sodass sie kaum Vergleichsmöglichkeiten hatte. Für sie war Joan einfach nur Joan, ihre Mutter und engste Gefährtin.
Es war ein sonniger Tag, der nur von ein paar hohen Schleierwolken getrübt wurde. Die Sonne knallte auf das große Sonnensegel, das Lucys Kopf überspannte. Trotzdem hatten die Frauen sich in die schweren Ponchos gehüllt, und alle paar Minuten schauten sie zum Himmel empor. Sie hatten die Sorge, dass Regen noch mehr von dem Staub in der Atmosphäre auswaschen würde, das toxische und mitunter radioaktive Zeug, bei dem es sich einst um Felder, Städte und Menschen gehandelt hatte und das sich nun wie eine dünne graue Decke um den Planeten wickelte.
Und wie immer redete Joan Useb wie ein Wasserfall.
»… Ich hatte immer schon ein Faible für die Briten, weißt du. Gott hab sie selig. In ihren besten Zeiten haben sie sich natürlich manchmal danebenbenommen. Aber die Menschen hatten sich generell an den Galapagos-Inseln versündigt. Verrückte norwegische Bauern, ecuadorianische Gefangenenlager, und alle rotteten die wilden Tiere nach besten Kräften aus. Selbst die Amerikaner benutzten die Inseln als Bombenabwurfgelände. Doch die Briten taten den Galapagos-Inseln nicht mehr an, als Darwin für fünf Wochen hinzuschicken und mit der Evolutionstheorie wieder abzuholen…«
Lucy stellte die Ohren auf Durchzug; diese wahllosen Reflexionen über eine Welt, die sie nie kennen gelernt hatte, bedeuteten ihr nichts.
Fregattvögel zogen am Himmel ihre Kreise und folgten dem Boot, wie sie den Fischkuttern und Ausflugsdampfern gefolgt waren, als die noch das Wasser durchpflügten. Es waren große schlanke, schwarz gefiederte Vögel, die für Lucy eine frappierende Ähnlichkeit hatten mit den Pterosauriern in den Lehrbüchern und auf den verblassenden Computer-Ausdrucken ihrer Mutter. Im Wasser glaubte sie einen Seelöwen zu erkennen, der vielleicht vom Summen des elektrischen Bootsmotors angelockt wurde. Aber diese drolligen Tiere waren mittlerweile selten, denn sie wurden von den Schadstoffen vergiftet, die noch immer in den Meeren zirkulierten.
Die Galapagos-Inseln waren eine Gruppe von Vulkankegeln, die vor ein paar Millionen Jahren hier am Äquator, tausend Kilometer westlich von Südamerika, über die Wasseroberfläche sich erhoben hatten. Ein paar von ihnen waren nicht mehr als eine Aufhäufung vulkanischer Felsbrocken. Andere hatten jedoch eine eigene geologische Evolution durchgemacht. Auf der Bartholomäusinsel zum Beispiel waren die weichen äußeren Schichten der älteren Kegel abgetragen worden, und die robusten Stotzen hatten sich blutrot gefärbt, als das in ihnen enthaltene Eisen gerostet war. Später waren diese älteren Formationen jedoch wieder von Lava umströmt worden, die zu Feldern, Röhren und Kegeln erstarrt war – wie ein grauschwarzes Mond-Meer, das um die Füße der alten Monumente schwappte.
Und es gab Leben hier auf diesen neuen, halbfertigen Inseln: Natürlich war es aber nur ein schwacher Abglanz des Lebens, das einst zum berühmtesten auf der ganzen Welt gezählt hatte.
Sie sah einen hageren Vogel auf einem schmalen Felsvorsprung stehen. Es war ein flugunfähiger Kormoran: ein struppiges schwarzes Geschöpf mit nutzlosen Stummel-Flügeln und einem öligen Gefieder. Es stand da allein auf dem vulkanischen Felsen und schaute ruhig aufs Meer hinaus, als ob es auf etwas wartete. Vor Räubern musste der Vogel sich hier nicht fürchten.