»… Echt hässlich«, murmelte Joan. »Diese Inseln, die Vögel und anderen Tiere. Wunderbar, gewiss, aber auch hässlich… Inseln sind seit jeher große Laboratorien der Evolution gewesen. Die Isolation. Die Leere, nur von einer Handvoll Spezies besiedelt, die übers Meer oder durch die Luft hierher kamen und dann all die leeren Nischen besetzt haben. Wie dieser Kormoran. So weit kommt man anscheinend in drei Millionen Jahren: Man bleibt auf halber Strecke zwischen einem Pelikan und einem Pinguin stehen. Gib ihm aber noch ein paar Millionen Jahre, und diese nutzlosen Flügel werden sich in richtige Flossen verwandelt haben und die Federn in Schuppen. Ich frage mich, wie er dann wohl aussehen würde? Kein Wunder, dass Darwin hier die Augen geöffnet wurden. Man kann der Selektion förmlich bei der Arbeit zuschauen.«
»Mutter…«
»Das weißt du natürlich alles schon.« Sie verzog das maskenhafte Gesicht. »Weißt du, es ist das Schicksal der Alten, so zu werden wie ihre eigenen Eltern. Genauso hat meine Mutter nämlich zu mir gesprochen. Es gab kein Gespräch, das ihr nicht zu einem Vortrag geraten wäre…«
Sie legten an einem flachen Strand an. Das Boot grub sich mit dem Kiel in den Sand, und Lucy sprang heraus. Die in Sandalen steckenden Füße knirschten im grobkörnigen schwarzen Sand. Sie drehte sich um und half ihrer Mutter, und dann machten die beiden das Boot richtig fest und luden schnell die Ausrüstung aus.
Während Joan die Fallen aufstellte, nahm Lucy zwei HypoFlinten und ging am Strand Streife.
Der Strand war ein unheimlicher Ort. Der schwarze Lava-Sand war mit genauso schwarzen Felsbrocken übersät. Selbst das Meer wirkte durch den dunklen Seeboden schwarz wie von einer Ölpest gezeichnet. In der Ferne machte sie Mangrovenbäume aus, die das Salzwasser zu nutzen vermochten. Sie waren ein grüner Tupfer auf dem schwarzen und roten Gestein.
Und Meeresleguane hatten sich hier wie dicke meterlange Skulpturen niedergelassen. Sie waren schwarz und so starr, dass man sie erst auf den zweiten Blick als Lebewesen identifizierte und nicht etwa als seltsame Lava-Formationen. Die Vorfahren der Leguane waren Festland-Bewohner und Baumkletterer gewesen und nach einer Überfahrt mit Schildkröten hier in Darwins Labor gestrandet. Sie stellten sich allmählich auf Algen als Nahrung um, die sie aus dem Meerwasser siebten. Das überschüssige Salzwasser spien sie aus – die Luft war von den Blasgeräuschen erfüllt, und Wasserstrahlen aus den Mäulern glitzerten im Sonnenlicht –, den restlichen Mageninhalt mussten sie von der Sonne aushärten lassen.
Lucy hielt die Flinte griffbereit. Falls wilde Kinder in der Nähe waren, musste sie auf der Hut sein.
Während der Auseinandersetzungen um die Plätze auf den letzten Schiffen zurück zum Festland hatten verzweifelte Eltern ihre Kinder hier ausgesetzt. Die Schwächsten waren bald gestorben, und ihre Knochen bleichten auf den Stränden und Felsen, wie die Knochen von Seelöwen, Leguanen und Albatrossen. Ein paar Kinder hatten jedoch überlebt. Überhaupt war die Bezeichnung ›Kinder‹ falsch gewählt, denn sie waren schon so lang hier, dass sie eine neue Generation hervorgebracht hatten: Kinder, die noch schlechter sprachen und unkultivierter waren als ihre Eltern. Sie waren wilde Kinder, ohne Werkzeug und nur mit einer rudimentären Sprache – und doch waren sie Menschen, die man zu zivilisieren und zu erziehen vermochte.
Und die einem auch ein Stück Fleisch aus dem Bein zu reißen vermochten.
Joans Fallen waren einfach: nicht viel mehr als getarnte Netze und Schlingen, die mit Ködern aus würzig riechender Nahrung versehen waren. Nachdem Joan sie ausgelegt hatte, gingen sie und Lucy im Schatten eines Felsens aus Tuff – bröselnder, schnell verwitternder Lava – in Deckung und warteten auf die wilden Kinder.
Seit Rabaul führten Joan und ihre Tochter ein Leben voller Entbehrungen, doch auch alle anderen hatten es nun schwer auf dem Planeten. Obwohl ihr ehrgeiziges Projekt zunichte gemacht worden war, hatte Joan die Arbeit fortgeführt. Mit der kleinen Lucy am Rockzipfel hatte sie sich hierher auf die Galapagos-Inseln zurückgezogen.
Paradoxerweise hatten diese zerbrechlichen Inseln die große globale Katastrophe relativ unbeschadet überstanden. Einst hatten hier siebzehntausend Menschen gelebt, hauptsächlich Emigranten aus Ecuador. Vor Rabaul hatte es ständig Konflikte zwischen den Bedürfnissen dieser wachsenden Population und der einmaligen Tierwelt gegeben, die unter dem Schutz der ecuadorianischen Nationalpark-Verwaltung stand. Als nach Rabaul die öffentliche Ordnung sich auflöste und als die Schiffe nicht mehr kamen, war der größte Teil dieser Population zurück aufs Festland geflohen.
Also hatten die weitgehend von Menschen – und ihrem Anhang, den Ratten und Ziegen sowie dem ganzen Müll – entvölkerten Inseln wieder einen bescheidenen Aufschwung erfahren.
Joan, Lucy und noch ein paar andere, einschließlich Alyce Sigurdardottir bis zu ihrem Tod, hatten sich in den Ruinen der früheren Charles Darwin-Forschungsstation auf Santa Cruz niedergelassen. Mit der Unterstützung der verbliebenen Einheimischen hatten sie sich der Hege der Lebewesen gewidmet, die Darwin während der sich bereits anbahnenden Auslöschung derart fasziniert hatten.
Für einige Zeit hatten die Kommunikationsverbindungen noch funktioniert. Doch dann hatten die EMP-Bomben, die auf dem Höhepunkt des von vielen Parteien geführten Krieges in großer Höhe gezündet worden waren, die Ionosphäre zerstört. Und als die letzten Satelliten vom Himmel geholt worden waren, hatte das auch das Ende fürs Fernsehen und sogar für den Sprechfunk bedeutet. Joan hatte den Funk noch abgehört, solang die Geräte und die Stromversorgung funktionierten. Doch es war schon Jahre her, seit sie zuletzt etwas gehört hatte.
Es gab also nicht einmal mehr Funk. Keine Kondensstreifen am Himmel, keine Schiffe am Horizont. Es gab nach menschlichem Ermessen keine Außenwelt mehr.
Sie gewöhnten sich an die Isolation. Man musste sich immer daran erinnern, wenn etwas verschwand, dann war es auch für immer. Doch die Vorräte, die die verschwundenen Menschen zurückgelassen hatten, die Werkzeuge und Kleidung, die Batterien und Taschenlampen, das Papier und sogar Nahrungskonserven würden diese kleine Gemeinschaft aus weniger als hundert Leuten für ihr ganzes Leben und noch länger unterstützen.
Die Welt war vielleicht untergegangen – aber nicht hier. Noch nicht.
Die Menschheit war natürlich nicht verschwunden. Das Endzeit-Drama, das auf dem Planeten sich entfaltete, würde sich noch über viele Jahre, sogar Jahrzehnte hinziehen. Wenn Joan jedoch langfristige Betrachtungen anstellte, erkannte sie, dass es für die erst achtzehnjährige Lucy und deren Kinder keine Perspektive gab – nicht die geringste. Also dachte sie auch nicht weiter darüber nach. Was hätte das auch gebracht?
Zu Lucys Füßen krochen Krabben übers Gestein. Die roten Körper mit himmelblauen Stielaugen kontrastierten mit der schwarzen Oberfläche.
»Mama?«
»Ja, Liebes?«
»Hast du dich schon einmal gefragt, ob wir das Richtige für diese Kinder tun? Ich meine, was, wenn die Großeltern dieser Meeresleguane gesagt hätten: ›Nein, ihr dürft diesen Meeres-Glibber nicht fressen. Klettert wieder auf die Bäume, wo ihr hingehört.‹?«
»Du meinst, wir sollten die Kinder sich entwickeln lassen wie die Leguane?«, fragte Joan mit geschlossenen Augen.
»Ja, vielleicht.«
»Damit die Nachkommen einer Handvoll der Kinder sich anzupassen vermögen, müssen die meisten der heute Lebenden sterben. Ich befürchte, dass die Moral von uns Menschen es nicht zulässt, dass wir uns zurücklehnen und zuschauen. Wenn aber der Tag kommt, wo wir ihnen nicht mehr helfen können, muss eben Papa Darwin die Regie übernehmen.« Joan zuckte die Achseln. »Anpassen würden sie sich, das steht fest. Aber im Endergebnis hätten sie nicht mehr viel mit uns gemein. Um hier zu überleben, haben die Kormorane die Fähigkeit zum Fliegen verloren, die vielleicht schönste Gabe überhaupt. Ich frage mich, was wir wohl verlieren würden… Aber ich bin natürlich voreingenommen. Es ist eigentlich eine schöne Vorstellung, dass, wie grausam auch immer der Prozess der Evolution uns erscheint, eines Tages vielleicht etwas Neues und in irgendeiner Hinsicht auch Besseres als wir dabei herauskommt.«