Das Weibchen Groß näherte sich ihm. Er trillerte leise. Mit einem Funkeln in den Augen krümmte sie den Rücken und bot sich ihm dar. Noth drang schnell in sie ein, und seine Welt versank in einem Freudentaumel.
KAPITEL 6
Die Überquerung
Der Kongo, Westafrika, vor ca. 32 Millionen Jahren
I
Kurz bevor er schließlich ins Meer mündete, wälzte der mächtige Fluss sich träge zwischen Wänden aus üppigem Regenwald dahin. Er hatte viele Schleifen und Seitenarme, die vom Hauptstrom abgeschnitten waren und sich in sumpfige Abschnitte und Tümpel verwandelt hatten. Es war, als ob der Fluss nach der langen Reise erschöpft sei, auf der er das Herz eines Kontinenten entwässerte.
Und in diesem Spätsommer hatte es viel geregnet. Der Fluss führte Hochwasser und überschwemmte ein Land, dessen Grundwasserspiegel ohnehin dicht unter der Erdoberfläche lag. Das schmutzige Wasser transportierte erodiertes Gestein, Schlamm und Lebewesen. Flöße aus ineinander verhakten Ästen und Pflanzen trieben wie steuerlose Schiffe auf dem gewaltigen Strom – Relikte, die bereits tausende Kilometer von ihrem Ursprung entfernt waren.
Hoch über dem Wasser, im vielstimmigen Obergeschoss des Waldes, vollführten die Anthros ihre tägliche zerstörerische Prozession.
Sie waren wie Affen. Sie liefen über Äste, schwangen sich mit den kräftigen Armen von Ast zu Ast, pflückten Früchte, rissen Palmwedel ab und zogen Rinde ab, um an Insekten zu gelangen. Weibchen streiften in Gruppen umher und gingen ihrer Arbeit nach, wobei sie hin und wieder eine Pause einlegten und sich der Fellpflege widmeten. Da waren Mütter mit Babys, die sich an Rücken und Bauch klammerten. Sie wurden von Tanten-Gruppen unterstützt. Die Männchen, die größer waren und einen weiteren Aktionsradius hatten, bildeten lockere und steter Veränderung unterliegende Allianzen, während sie um Nahrung, Status und Zugang zu den Weibchen konkurrierten.
Mehr als dreißig Anthros arbeiteten hier. Sie waren schlaue und gute Jäger und markierten ihre Jagdrouten mit Exkrementen. Es herrschte ein fröhliches, lautstarkes Treiben, während die Mitglieder der Gruppe aßen, arbeiteten und die Kräfte maßen.
Streuner war im Moment allein und schwang sich von einem dicken Ast zum nächsten. Obwohl sie hoch über dem Boden war, hatte sie keine Angst zu fallen. Sie war hier in ihrem Element; ihr Körper und Geist waren hervorragend an die Bedingungen dieses undurchdringlichen Blätterdachs angepasst.
An der Küste, im Westen, gab es dichte Mangrovensümpfe. Doch hier im Binnenland war der alte Wald reichhaltig und vielgestaltig. Hier wuchsen mächtige Bäume mit ausladenden Wurzeln: Papayas, Cashews und Fächerpalmen. Die meisten Bäume trugen Früchte und waren reich an Harz und Ölen. Es war ein ausgesprochen günstiger Platz zum Leben. Aber er war auch das Relikt einer Welt, die dem Untergang geweiht war, denn die Welt wurde seit Noths Zeit von einer starken Abkühlung heimgesucht, und die einst weltumspannenden Wälder waren zu kleinen Inseln geschrumpft.
Streuner fand eine Palmnuss. Sie setzte sich auf einen Ast und inspizierte sie. Eine dicke grüne Raupe kroch über die Schale. Sie leckte die Raupe ab und kaute sie genüsslich.
Die Horde brach geräuschvoll durch die Baumwipfel um sie herum. Auch wenn sie allein war, wusste sie genau, wo die anderen alle steckten. In den langen Jahren seit Noths Zeit hatte die soziale Struktur der Primaten sich stetig weiter entwickelt: Für die Anthros waren ihre Artgenossen nunmehr interessanter als tote Gegenstände – sie waren die interessantesten Objekte in der Welt. Streuner war sich der übrigen Horde so bewusst, als ob sie wie eine Lampion-Reihe in den Baumkronen aufgehängt wäre und den Rest der Welt zu einem amorphen Grau verdunkelte.
Streuner gehörte keiner der Spezies an, die jemals von Menschen katalogisiert werden würde. Sie sah aus wie ein Kapuzineräffchen, der ›Leierkasten spielende‹ Affe, der eines Tages die Wälder Südafrikas durchstreifen würde, und hatte auch in etwa seine Größe. Sie wog nur ein paar Kilogramm und hatte ein dichtes schwarzes Fell mit weißen Zeichnungen an Schultern, Hals und im Gesicht, womit sie eben an einen Kapuzinermönch erinnerte. Arme und Beine waren gelenkig und symmetrisch, ganz im Gegensatz zu Noth: Dieser Körper-Bauplan war typisch für die Bewohner offener Baumkronen. Die Nase war flach und hatte kleine, seitlich ausgestellte Nasenlöcher, die für die Affen des späteren Südamerika typisch waren und nicht für die afrikanischen.
Sie sah aus wie ein Affe. Aber sie war kein Affe: Als entfernter Nachfahr von Noths Adapiden gehörte ihre Art zu einem Primatentyp mit der Bezeichnung Anthropoiden, den Vorläufern der Affen und Menschenaffen – diese große Aufspaltung in der Familie der Primaten sollte erst noch stattfinden.
Fast zwanzig Millionen Jahre nach dem Tod von Noth waren die Kämm-Krallen der Notharctus-Füße bei Streuner durch Fußnägel ersetzt worden. Sie hatte kleinere Augen als Noth und wegen der kürzeren Schnauze ein weites räumliches Blickfeld – und die Augen wurden durch eine feste Knochenhöhle geschützt. Noths Augen waren nur durch einen Knochenring geschützt worden, und seine Sicht wurde beim Kauen sogar durch die Backenmuskeln beeinträchtigt. Außerdem hatte Streuner viele der alten Nachtjagd-Merkmale verloren, über die Noth noch verfügt hatte. Der Sinnes-Schwerpunkt hatte sich vom Geruch zum Sehen verschoben.
Aus Rechts’ Enkeln war eine große Armee hervorgegangen. Sie hatte sich über die Alte Welt ausgebreitet und die dichten tropischen Wälder Asiens und Afrikas besiedelt. Auf der Wanderschaft hatten sie sich weiterentwickelt, diversifiziert und verändert. Die Linie der Anthropoiden aus der Alten Welt sollte jedoch mit Streuner abbrechen. Streuner konnte nicht wissen, dass sie ihre Mutter nie mehr wieder sehen sollte – und ihr Schicksal war weitaus seltsamer als alles, was ihre unmittelbaren Vorfahren erlebt hatten.
Durch das weiß gefleckte Fell wirkte Streuners Gesicht skizzenhaft, unfertig und irgendwie wehmütig. Aber sie hatte eine jugendliche Schönheit. Sie war drei Jahre alt und damit noch ein Jahr von der Menarche entfernt. Sie hatte den unabhängigen Geist einer jungen Frau und war noch nicht voll in die Hierarchien und Bündnisse der Horde integriert. Vielmehr wirkten bei ihr noch die solitären Instinkte der entfernten Vorfahren. Sie blieb gern für sich. Zumal die Gruppe im Moment keine sehr angenehme Gesellschaft war.
Die letzten paar Jahre waren eine Zeit des Überflusses gewesen, und die Horde hatte sich zahlenmäßig vergrößert. Ein Baby-Boom hatte stattgefunden, aus dem auch Streuner hervorgegangen war. Allerdings brachte das Wachstum auch Probleme mit sich. Einmal herrschte eine harte Konkurrenz um Nahrung. Jeden Tag gab es Streitigkeiten.
Und dann war da das Kämmen. In einer kleinen Gruppe war genug Zeit, um alle zu kämmen. Das unterstützte die Pflege von Beziehungen und die Festigung von Allianzen. Wurde die Gruppe jedoch zu groß, war dafür einfach keine Zeit mehr. Also bildeten sich Cliquen und Untergruppen heraus, wo man gegenseitige Fellpflege betrieb und die anderen ignorierte. Ein paar Cliquen gingen sogar schon tagsüber eigene Wege und kamen nur noch zum Schlafen zurück.
Irgendwann würde es die Gruppe zerreißen. Die Cliquen würden sich absondern, und die Gruppe würde sich auflösen. Jedoch mussten die neuen, kleineren Gruppen groß genug sein, um sich vor Räubern zu schützen – was auch der eigentliche Grund war, weshalb es am Tag überhaupt zur Gruppenbildung kam –, sodass es noch eine lange Zeit, vielleicht sogar Jahre dauern würde, bis eine Abspaltung vollzogen war. Das geschah allenthalben. Es war eine zwangsläufige Folge der wachsenden Primatengemeinschaften. Und es hatte ständige Reibereien zur Folge.