Diese Qualitäten hatten es dem Gras ermöglicht, eine ganze Welt zu übernehmen und sie zu ernähren.
Die neuen Gras weidenden Pflanzenfresser entwickelten spezialisierte Wiederkäuer-Mägen, um das Grasfutter über lange Zeiträume zu verdauen und ihm alle Nährstoffe zu entziehen. Außerdem bildeten sie Zähne aus, die dem Schmirgeleffekt der Quarzkörnchen in den Grashalmen zu widerstehen vermochten. Viele Pflanzenfresser begaben sich wegen der jahreszeitlich unterschiedlichen Regenfälle auf Wanderschaft. Diese neuen Säugetiere waren größer als ihre urzeitlichen Vorfahren, schlank und langbeinig mit spezialisierten Füßen und einer reduzierten Zehenanzahl, um große Entfernungen zu gehen und zu rennen. Inzwischen waren auch viele neue Nagetierarten wie Wühlmäuse und Feldmäuse entstanden, die sich von Grassamen zu ernähren vermochten.
Und es kamen neue Fleischfresser auf, die für die Jagd auf die Herden der großen Pflanzenfresser ausgestattet waren. Die Regeln des alten Spiels hatten sich jedoch geändert. In der schlechten Deckung des Graslandes machten die Räuber die Beute schon aus großer Entfernung aus – und umgekehrt. So starteten Räuber und Beute ein Stoffwechsel-Wettrüsten, bei dem der Schwerpunkt auf Geschwindigkeit und Ausdauer lag; sie entwickelten noch längere Beine und schnellere Reaktionen.
Eine neue Art von Landschaft entstand, vor allem an den Ostküsten der Kontinente, die vom überwiegenden Westwind und dem Regen geschützt waren, den er brachte. Es handelte sich um offene, mit Gras bewachsene Ebenen, die durch vereinzelte Büsche und Bäume charakterisiert wurden. Und die Tiere, die sich an die neue Vegetation anpassten, wurden mit einer garantierten Futterquelle belohnt, die sich über hunderte Kilometer erstreckte.
Durch die Spezialisierung und die Stabilität des Graslands wurden die Pflanzenfresser jedoch auf die Gräser beschränkt und die Räuber auf ihre Beute, sodass eine enge gegenseitige Abhängigkeit entstand. In dieser Periode unterschieden Hirsche, Kühe, Schweine, Hunde und Kaninchen sich kaum noch von ihren Pendants des Menschenzeitalters, das fünf Millionen Jahre später einsetzen sollte. Dennoch hätten viele Tiere erstaunlich groß angemutet; allerdings wurden sie später von kleineren und schnelleren Verwandten verdrängt.
Inzwischen hatte die Eröffnung der Landbrücken, die durch den sinkenden Meeresspiegel entstanden, eine große Tier-Wanderung ausgelöst. Drei Arten von Elefanten – das Deinotherium (fraß Laub von den Bäumen), das Gomphotherium (fraß einfach alles) und das Mastodon (ein Weidetier) – wanderten von Afrika nach Asien ein. Begleitet wurden sie von Menschenaffen, Capos Verwandten. Aus der Gegenrichtung kamen Nagetiere und Insektenfresser, Katzen, Rhinozerosse, Maushirsche, Schweine sowie urtümliche Giraffen- und Antilopenarten.
Es gab auch ein paar Exoten, vor allem auf den Inseln und den isolierten Kontinenten. In Südamerika gediehen die größten Nagetiere, die jemals gelebt hatten; es existierte beispielsweise eine Meerschweinchen-Art so groß wie ein Nilpferd. In Australien hatten Kängurus ihr Debüt gegeben. Und in Nordamerika, Europa und Asien tauchten Tiere auf, die später als tropisch bezeichnet wurden. So suhlten sich zum Beispiel Nilpferde und Elefanten in der Flutebene der breiten und sumpfigen Themse. Die Welt hatte sich seit Noths Zeiten stark abgekühlt, aber deswegen war sie noch nicht kalt; die tiefste Kälte sollte erst noch kommen.
Aber die Austrocknung schritt voran. Bald hatte der alte Flickenteppich aus Grasland und Waldland, in dem eine große Vielfalt von Tieren zu leben vermochte, sich in die äquatorialen Zonen Afrikas zurückgezogen; andernorts ging das Grasland in Halbwüste, Savannen, Steppen und Pampas über. Unter diesen rauen Bedingungen mit dem verringerten Nahrungsangebot starben viele Arten aus.
Bei diesem gewaltigen evolutionären Drama führte das ständig wechselnde Erdklima Regie – und die Tiere und Pflanzen waren den Launen des unsichtbaren Regisseurs hilflos ausgeliefert.
Am nächsten Morgen wurde es nichts aus dem genüsslichen An-den-Eiern-Kratzen. Nach dem Aufwachen setzte Capo sich auf und stieß wegen der Verletzungen und Prellungen vom Vortag einen leisen Schmerzensschrei aus. Dann entleerte er in einer schnellen Bewegung Blase und Darm, ohne das protestierende Geschnatter unter sich zu beachten.
Er sprang aus dem Nest und kletterte den Baum hinunter. Wie tags zuvor krachte er mit Gebrüll in die Nester der Sippe und weckte sie mit Tritten und Schlägen. An diesem Tag war Capo aber nicht an einer Demonstration seiner Macht interessiert; an diesem Morgen ging es ihm nicht um Dominanz, sondern um Führung.
Sein Entschluss hatte noch immer Bestand. Die Sippe musste weiterziehen. Wohin sie gehen sollten, war freilich kein Element seiner planlosen Entscheidungsfindung vom gestrigen Tag. Was ihm jedoch deutlich im Bewusstsein war, war der gestrige Zwischenfall, der Kampf mit Felsbrocken und das Gefühl, dass dieses kleine Waldgebiet übervölkert war.
Die Sippe versammelte sich auf dem Erdboden. Es waren über vierzig Mitglieder, einschließlich der Kleinkinder, die sich an Bauch oder Rücken ihrer Mütter klammerten. Sie waren verschlafen, unruhig und kratzten und streckten sich. Capo hatte sie kaum versammelt, da zerstreuten sie sich natürlich schon wieder. Sie zupften an Grasbüscheln und Moos auf dem Boden und pflückten tief hängende Feigen und andere Früchte. Selbst unter den Männchen spürte er Reserviertheit, Rivalität und Ressentiments; vielleicht widersetzten sie sich ihm, nur um sich in den endlosen Machtkämpfen selbst zu profilieren. Und was die Weibchen betraf, so folgten die trotz Capos Imponiergehabe eigenen Gesetzen.
Wie sollte er eine solche Horde überhaupt irgendwohin führen?
Sein Gehirn war eine hoch entwickelte Maschine, die in erster Linie zu dem Zweck entwickelt worden war, komplexe soziale Situationen zu handhaben. Und er verfügte über ein gutes, angeborenes Verständnis seiner Umwelt. Er hatte die überlebensnotwendigen Ressourcen und ihre Standorte in einer Art Datenbank im Kopf abgespeichert. Er verstand sich sogar auf nautische Kopplung und vermochte leicht die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten zu berechnen. Es war sein Umweltbewusstsein, das die Besorgnis wegen des schrumpfenden Waldgebiets verursacht hatte.
Jedoch war sein Bewusstsein, im Gegensatz zu einem Menschen, nicht ständig aktiv. Das Bewusstsein schaltete sich quasi in Intervallen zu. Er war sich seiner Gedanken, seiner selbst nur dann bewusst, wenn er an andere in der Sippe dachte – weil das nämlich der primäre Zweck des Bewusstseins war, das Denken anderer zu beeinflussen. In Bezug auf andere Lebensbereiche wie Nahrungssuche oder auch Werkzeugbenutzung hatte er dieses Bewusstsein nicht: Das waren unbewusste Handlungen, die wie das Atmen oder die Bein- und Armarbeit beim Klettern ohne das Zutun des Bewusstsein abliefen. Sein Denken war nicht vernetzt wie das eines Menschen, sondern ein ›Schubladendenken‹.
Er hatte allerdings Schwierigkeiten, die verschiedenen Teile des Puzzles zusammenzusetzen: die Gefahr, die vom schrumpfenden Wald ausging und wie er seine Sippe führen sollte. Dennoch empfand er die Gefahr als höchst real, und alle Instinkte schrien ihn an, von hier zu verschwinden. Die Sippe musste ihm folgen. Das war zwingend notwendig; er wusste es in jeder Faser seines Seins. Wenn sie hier blieben, würden sie sicher sterben.
Also stieß er ein Gebrüll aus, um das Blut in Wallung zu bringen, und lieferte die Vorstellung seines Lebens ab. Er rannte vor der Sippe auf und ab und schlug, knuffte und trat seine Artgenossen. Dann riss er Äste von den Bäumen und schwang sie über dem Kopf, um noch größer zu wirken. Er sprang und schwang sich über Äste und Baumstämme, trommelte wild auf den Boden und – als eine ultimative Bekräftigung des gestrigen Siegs – warf er Felsbrocken auf den Boden und setzte sich mit dem rosettenartigen Anus auf das Gesicht des jüngeren Männchens. Es war ein großartiges Spektakel und übertraf fast alles, was er in jüngeren Jahren gebracht hatte. Männchen jubelten, Weibchen zuckten zurück und Babys schrien, und Capo gestattete sich einen Anflug von Stolz auf seine Leistung.