Maughan verbarg sich hinter einem flauen Scherz. »Beim Jupiter, Ma’am, ich muss Sie zu meiner nächsten Karriere-Planung hinzuziehen.«
Die Lounge füllte sich zusehends mit Passagieren. »Weiß jemand, was hier los ist?«, fragte Joan.
»Das sind die Demonstranten«, sagte Ian Maughan. »Sie werfen Steine aufs Flughafengelände. Die Polizei versucht zwar, sie zurückzudrängen, aber es herrscht ein ziemliches Chaos. Wir durften wohl landen, aber es ist zu unsicher, unser Gepäck zu holen und den Flughafen zu verlassen.«
»Schrecklich«, sagte Joan. »Dann werden wir während der ganzen Konferenz einen Belagerungszustand haben.«
»Wer ist der Urheber?«, fragte Alyce.
»Hauptsächlich die Vierte Welt.« Eine Dachorganisation, basierend auf einer christlichen Kleinstsekte, die vorgab, die Interessen der globalen Unterklasse zu vertreten: der so genannten Vierten Welt, Menschen, die noch weniger sichtbar waren als die Nationen und Gruppierungen, die die Dritte Welt ausmachten – sie waren die Ärmsten, ohne jede Perspektive, die von den reichen Nationen des Nordens und Westens nicht einmal wahrgenommen wurden. »Sie glauben, Pickersgill sei selbst in Australien.«
Joan verspürte einen Anflug von Unbehagen. Wo Gregory Pickersgill, der britischstämmige charismatische Führer des zentralen Kults auftauchte, kam es immer zum Eklat – manchmal auch mit Todesfolge. Sie verdrängte diese Sorge. »Überlassen wir das der Polizei. Wir müssen eine Konferenz leiten.«
»Und einen Planeten retten«, sagte Ian Maughan mit einem Lächeln.
»Verdammt richtig.«
In einer Ecke des Flughafengebäudes kam Unruhe auf, als eine große weiße Kiste hereingerollt wurde. Sie sah aus wie ein großer Kühlschrank. Kameras wurden Alison Scott in einem Blitzlichtgewitter ins Gesicht gehalten.
»Ein Gepäckstück, das offensichtlich nicht warten konnte«, murmelte Alyce.
»Ich glaube, das ist Lebendfracht«, sagte Maughan. »Ich habe sie darüber sprechen hören.«
Die kleine Bex kam zu Joan gelaufen. Joan sah, dass Ian Maughan bei ihrem blauen Haar und den roten Augen groß guckte; vielleicht waren die Leute in Pasadena nicht ganz auf der Höhe der Zeit. »Oh, Dr. Useb.« Bex nahm Joans Hand. »Ich will Ihnen zeigen, was meine Mutter mitgebracht hat. Ihnen auch, Dr. Sigurdardottir. Bitte kommen Sie. Sie waren im Flugzeug so nett zu mir. Ich hatte wirklich Angst vor dem ganzen Rauch und dem Rütteln.«
»Du warst aber nicht in Gefahr.«
»Ich weiß. Aber ich hatte trotzdem Angst. Sie haben das gesehen und mir geholfen. Kommen Sie, ich möchte Ihnen was zeigen.«
Also ließ Joan, mit Alyce und Maughan im Schlepptau, sich durch die Lounge führen.
Alison Scott sprach gerade in die Kamera. Sie war eine große, beeindruckende Frau. »… Mein Fachgebiet ist die Evolution der Entwicklung. Evo-devo, wie die BLÖD-Zeitung sich ausdrücken würde. Dabei geht es um das Verständnis, wie man zum Beispiel einen abgetrennten Finger nachwachsen lässt. Dies erreicht man durch die Untersuchung uralter Gene. Man nehme einen Vogel und ein Krokodil, und man bekommt einen Einblick in das Erbgut ihrer gemeinsamen Vorfahren: eines Reptils aus der Ära vor den Dinosauriern, das vor etwa zweihundertfünfzig Millionen Jahren gelebt hat. Schon vor der Jahrhundertwende war es einer Gruppe von Wissenschaftlern gelungen, das Wachstum von Zähnen in einem Hühnerschnabel ›einzuschalten‹. Die alten Baupläne sind noch vorhanden, nur für andere Zwecke entfremdet worden; alles, was man tun muss, ist nach dem richtigen molekularen Schalter zu suchen…«
Joan hob die Augenbrauen. »Meine Güte. Man könnte glatt meinen, es sei ihre Konferenz.«
»Die Frau ist im Show-Business tätig«, sagte Alyce mit kalter Geringschätzung. »Nicht mehr und nicht weniger.«
Mit Elan tippte Alison Scott auf die Kiste neben sich. Eine Wand wurde transparent. Der dicht gedrängten Menge entrang sich ein Keuchen – und dann ertönte ein gedämpfter Ruf. »Bitte bedenken Sie«, sagte Scott, »dass das, was Sie hier sehen, eine genetische Rekonstruktion ist – nicht mehr. Die Einzelheiten wie Hautfarbe und Verhalten hatte man willkürlich festlegen müssen…«
»Mein Gott«, sagte Alyce.
Die Kreatur in der Kiste sah auf den ersten Blick wie ein Schimpanse aus. Das nicht mehr als einen Meter große Geschöpf war ein Weibchen; die Brüste und Genitalien waren unverkennbar. Und sie beherrschte den aufrechten Gang. Joan erkannte das sofort an der besonderen Geometrie der seitlich ausgestellten Hüfte. Im Moment ging sie jedoch nirgends hin. Sie hatte sich in eine Ecke gekauert und die Beine an die Brust gezogen.
»Ich sagte Ihnen doch, Dr. Useb, dass Sie nicht im Staub nach Knochen buddeln müssen«, sagte Bex. »Nun können Sie sich mit Ihren Vorfahren treffen.«
Wider Willen war Joan fasziniert. Ja, sagte sie sich: Ich begegne meinen Vorfahren, den haarigen Großmüttern. Dafür habe ich mein Leben lang gearbeitet. Alison Scott versteht das offensichtlich. Aber ist diese arme Schimäre überhaupt real? Und wenn nicht – wie sahen sie wirklich aus?
Bex fasste Alyce impulsiv an der Hand. »Sehen Sie?« Die roten Augen leuchteten. »Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie sich wegen des Aussterbens der Bonobos keine Sorgen machen müssen.«
Alyce seufzte. »Aber Kind, wenn wir schon keinen Platz für die Schimpansen haben, wo sollen wir dann einen Platz für sie finden?«
Der geklonte Australopithecine fletschte vor Entsetzen in einem panischen Grinsen die Zähne.
KAPITEL 9
Die Läufer
Zentral-Kenia, Ostafrika, vor ca. 1,5 Millionen Jahren
I
Sie liebte es zu rennen, mehr als alles andere in ihrem Leben. Das war es, wozu ihr Körper gemacht war.
Bei einem Sprint schaffte sie hundert Meter in sechs oder sieben Sekunden. Bei einer langsameren Gangart bewältigte sie eine Meile in drei Minuten. Sie konnte rennen. Wenn sie rannte, brannte der Atem in der Lunge, und die Muskeln der langen Beine und pumpenden Arme schienen zu glühen. Sie liebte das stechende Gefühl des Staubs, der auf der nackten, mit Schweiß überzogenen Haut klebte und den Ozon-Geruch des von der Sonne verbrannten, trockenen Landes.
Es war schon spät in der Trockenzeit. Die Mittagshitze lastete schwer auf der Savanne, und die im Zenit stehende Sonne erfüllte die Szenerie mit einer lichten Symmetrie. Das spärliche gelbe Gras zwischen den sanften vulkanischen Hügeln war überall von den großen Pflanzenfresser-Herden abgegrast und zertrampelt. Ihre Wanderwege, die sie kreuzte, waren wie Straßen, die Weiden und Wasserläufe miteinander verbanden. In diesem Zeitalter prägten die großen Grasfresser die Landschaft; von den vielen Arten von Menschen in der Welt hatte noch keine diese Rolle übernommen.
In der Mittagshitze versammelten die Grasfresser sich im Schatten oder lagen einfach im Staub. Sie sah statische Herden elefantenartiger Tiere, die wie graue Wolken in der Ferne anmuteten. Plumpe, langbeinige Straußenvögel pickten lustlos auf dem Erdboden. Schlanke Räuber schliefen bei ihren Jungen. Sogar die Aasfresser, die kreisenden Vögel und die flinken Hyänen ruhten sich von ihrem grässlichen Werk aus. Nichts regte sich außer dem Staub, den sie aufwirbelte, nichts außer ihrem Schatten, der zu einem dunklen Fleck unter ihr geschrumpft war.
Völlig in ihren Körper und die Welt versunken lief sie ohne Plan und Ziel, lief mit einer Geschmeidigkeit und Schnelligkeit, wie sie bisher keiner Primatenart zu Eigen gewesen war.
Sie dachte nicht in menschlichen Kategorien. Sie war sich nichts außer ihres Atems bewusst, der angenehmen schmerzenden Muskeln, des Bauchs und des Lands, das unter ihren Füßen dahinzufliegen schien. Dennoch sah dieses nackte Wesen aus wie ein Mensch.