Sie war groß – über hundertfünfzig Zentimeter; ihre Art war größer als alle anderen Vormenschen. Sie war schlank und geschmeidig und wog nicht mehr als fünfundvierzig Kilogramm; sie hatte dünne Gliedmaßen, Muskeln wie harte Knoten und einen flachen Bauch und Hinterteil. Sie war erst neun Jahre alt, stand aber schon an der Schwelle zum Erwachsenwerden – die Hüften wurden schon breiter, und die kleinen festen Brüste waren schon gerundet. Aber sie war noch im Wachstum. Sie würde eine Größe von annähernd zwei Metern erreichen, die schlanken Proportionen aber beibehalten. Die verschwitzte Haut war kahl außer einem lockigen schwarzen Haarschopf und dunklen Haarbüscheln in der Schamgegend und unter den Armen. Sie hatte allerdings noch so viele Haare wie ein Menschenaffe, nur dass sie zu einem hellen Flaum reduziert waren. Ihr Gesicht war rund und klein mit einer fleischigen Stupsnase, die wie die eines Menschen hervorsprang und nicht wie bei einem Affen flach auflag.
Vielleicht war ihre Brust etwas hoch und etwas konisch; vielleicht hätte sie mit den langen Gliedmaßen auch etwas unproportioniert gewirkt. Aber ihr Körper lag bereits innerhalb der Grenzen menschlicher Variation; sie hätte als Bewohner einer Wüstenregion durchgehen können wie die Dinka im Sudan, die Massai und andere afrikanische Stämme, die eines Tages das Land durchstreifen würden, das sie nun durchquerte.
Sie wirkte menschlich. Nur der Kopf passte nicht ins Bild. Über den Augen verlief ein dicker Knochenwulst, der in eine lange, fliehende Stirn überging. Von dort verlief der Schädelknochen fast waagerecht bis zum Hinterkopf. Die Konturen des Kopfes wurden zwar durch das dichte Haar kaschiert, aber das geringe Schädelvolumen war trotzdem unverkennbar.
Sie hatte den Körper eines Menschen und den Schädel eines Affen. Aber die Augen waren klar und neugierig. Mit ihren neun Jahren war sie – in diesem kurzen Moment aus Leben, Licht und Freiheit und von der Freude über ihren Körper erfüllt – so glücklich, wie sie es nur zu sein vermochte. Für einen menschlichen Betrachter wäre sie eine Schönheit gewesen.
Ihre Leute waren Hominiden, den Menschen näher stehend als Schimpansen und Gorillas und mit der Spezies verwandt, die man eines Tages als Homo ergaster oder Homo erectus bezeichnen würde. In der ganzen Alten Welt lebten viele Varianten und noch mehr Sub-Spezies, die auf demselben Bauplan beruhten. Sie waren eine erfolgreiche und flexible Art, aber es gab nicht annähernd genug Knochen und Schädelfragmente, um ihre ganze Geschichte zu erzählen.
Irgendetwas stob vor ihren Füßen auf. Erschrocken und keuchend blieb sie stehen. Es war eine Schilfratte, ein Nagetier; es war bei der Nahrungssuche gestört worden und huschte davon.
Und sie hörte einen Schrei. »Weit! Weit!«
Sie schaute zurück. Ihre Leute, die sich in der Ferne verschwommen abzeichneten, hatten sich auf dem felsigen Abschnitt versammelt, wo sie die Nacht verbringen wollten. Einer von ihnen, ihre Mutter oder Großmutter, hatte den höchsten Punkt der Felsen erklommen und rief sie durch die vorm Mund zu einem Trichter geformten Hände an. »Weit!« Das war ein Ruf, den kein Menschenaffe hervorzubringen vermocht hätte, nicht einmal Capo. Das war ein Wort.
Die Sonne hatte den Zenit inzwischen überschritten, und die Schatten zu ihren Füßen wurden wieder länger. Bald würden die Tiere aufwachen, und sie wäre dann nicht mehr sicher und würde den Schutz der schlafenden sonnigen Welt verlieren.
Allein und so weit von ihren Leuten entfernt, verspürte sie einen Anflug von Furcht. Jeden Tag, wann immer die Gelegenheit sich ihr bot, rannte sie zu weit weg, und jeden Tag musste sie zurückgerufen werden. Sie hatte keinen Namen. Kein Hominide hatte sich bisher einen Namen gegeben. Doch wenn sie einen gehabt hätte, dann wäre es ›Weit‹ gewesen.
Sie drehte sich zum Felsen um und rannte mit stetigen, raumgreifenden Schritten auf ihn zu.
Die Gruppe umfasste vierundzwanzig Leute.
Die meisten Erwachsenen hatten sich über die Landschaft in der Nähe der verwitterten Sandsteinklippe verstreut. Sie bewegten sich wie schlanke Schatten durch das staubige Gelände und suchten lautlos und routiniert nach Nüssen und kleinen Tieren. Die Mütter kümmerten sich um die kleinsten Kinder; sie hatten sich bei ihnen am Rücken festgeklammert oder krabbelten ihnen zwischen den Füßen umher.
Weits Mutter durchsuchte einen kleinen Akazienhain, der von einer durchziehenden Deinotherium-Herde gründlich verwüstet worden war. Diese urtümlichen Elefantenartigen hatten mit den nach unten gerichteten Stoßzähnen und kurzen Rüsseln die Bäume umgeknickt und zersplittert, den Boden zertrampelt und die Wurzeln ausgerissen. Hominiden waren hier nicht die einzigen Nahrungssucher: Warzenschweine und Buschschweine stießen grunzend und quiekend die hässlichen Schnauzen in die aufgewühlte Erde. Die Zerstörung war erst vor kurzem erfolgt. Weit sah, wie große Käfer den frischen Deinotherium-Dung vergruben, und Erdferkel und Honigdachse wühlten auf der Suche nach den Käferlarven im Boden.
Ein solcher Platz war eine ergiebige Nahrungsquelle. Eine gute Strategie, in einem unbekannten Gebiet Nahrung zu finden, war die, den Spuren anderer Tiere zu folgen, insbesondere ›destruktiver‹ Arten wie Elefanten und Schweinen. In dem verwüsteten Wäldchen würde Weits Mutter Nahrung finden, die sonst verborgen oder unzugänglich gewesen wäre. Inmitten der gefällten Baumstämme fanden sich sogar Hebel, Widerlager und Grabstöcke, um Wurzeln aus dem Boden zu reißen, abgebrochene Äste, von denen man nur noch die Früchte pflücken musste und Palmsplitter, um Mark zu zapfen.
Weits Mutter war eine ruhige, stolze Frau und sogar für ihre Art groß gewachsen; auf sie hätte der Name Ruhig gepasst. Sie hatte zwei Kinder bei sich; das schlafende Baby über der Schulter und einen Sohn. Der Junge war halb so alt wie Weit, aber schon fast so groß wie sie. Ein dürrer Junge, den Weit sich als den Bengel vorstellte: frech, clever und unverschämt erfolgreich, wenn es darum ging, sich der Zuwendung und Großzügigkeit der Mutter zu versichern.
Ruhigs Mutter, Weits Großmutter, war bei ihr. Sie war Mitte Vierzig und schon zu steif, um noch eine große Hilfe bei der Nahrungssuche zu sein. Aber sie unterstützte ihre Tochter, indem sie ein Auge auf das jüngste Kind hatte. Kein Mensch hätte sich gewundert, alte Leute in dieser Gruppe zu sehen; das wäre nur allzu natürlich gewesen. Von den früheren Primaten-Arten war jedoch keine alt geworden – nur wenige hatten überhaupt über die fruchtbaren Jahre hinaus überlebt. Wieso sollten ihre Körper sie am Leben erhalten, wenn sie keinen Beitrag mehr zum Gen-Pool zu leisten vermochten? Doch nun war das anders; bei Weits Art spielten auch alte Leute eine Rolle.
Schnaufend und verstaubt erklomm Weit den Felsen. Er war nur eine hundert Meter durchmessende Erhebung mit Büscheln zähen Grases, ein paar Insekten und Eidechsen. Für die Leute war er jedoch eine temporäre Heimatbasis, eine Insel relativer Sicherheit in dieser offenen Savanne, diesem Meer voller Gefahren. Auf dem Felsen besserten zwei Männer hölzerne Speere aus. Sie wirkten abwesend und ließen die Blicke schweifen, als ob die Hände selbständig arbeiteten. Ein paar der älteren Kinder spielten und bereiteten sich auf diese Art aufs Erwachsenwerden vor. Sie balgten sich, spielten Fangen und übten schon einmal das Balzen. Zwei Sechsjährige spielten ›Onkel Doktor‹ und fummelten sich gegenseitig an den Brustwarzen und Bäuchen herum.
Weit war kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen und in dieser Gruppe die Einzige in ihrem Alter. Deshalb sonderte sie sich von den anderen ab und bestieg den Gipfel dieses erodierten Sandsteinfelsens. Sie fand ein Stück eines Antilopenkiefers, den ein Aasfresser hier abgelegt hatte und der von hungrigen Mündern und emsigen Insekten sauber abgenagt worden war. Sie zerschmetterte den Knochen auf dem Stein und schabte mit einer scharfen Kante den Schweiß und Schmutz von Beinen und Bauch.