Von dieser Warte breitete die Landschaft sich wie ein komplexes Panorama aus. Es war ein weites Tal. Ein Ensemble aus Kuppen, erstarrten Lavaströmen, Verwerfungen und Kratern kündete von geologischen Apokalypsen. Im Osten – und hinterm Horizont im Westen – hatte das Land sich aufgewölbt und bildete ein mit fruchtbarem vulkanischem Boden überzogenes Plateau, das bis zu einer Höhe von dreitausend Metern aufragte. Dieses Plateau lief in einer senkrecht ins Tal abstürzenden Wand aus.
Dies war das Rift Valley, ein Riss zwischen zwei aneinandergrenzenden tektonischen Platten. Vom Roten Meer und Äthiopien im Norden verlief er dreitausend Kilometer durch Kenia, Uganda und Tansania und endete in Mosambik im Süden. Seit zwanzig Millionen Jahren hatte die geologische Aktivität in dieser großen Wunde Vulkane erschaffen, Hochländer emporgehoben und Tiefebenen zu Tälern gefaltet, die Wasser zu den größten Seen des Kontinents leiteten. Das Land war auch umgeformt worden, indem Ascheschicht auf Ascheschicht gepackt und breite Lagen aus Schiefer und Schlammstein eingezogen wurden. An den vulkanischen Hängen wuchsen Regenwälder, und ein Flickenteppich aus Vegetation – Waldgebiete, Savanne und Buschland – bedeckte den Boden des Tals. Es war ein üppiger, bunter und vielgestaltiger Ort.
Und er war voller Tiere.
Als die Sonne sich dem Horizont entgegensenkte, wurden die Tiere der Savanne lebendig. Die Nilpferde suhlten sich in den Feuchtgebieten, und die Herden der majestätischen Elefantenartigen wanderten gemächlich über das Grasland. Es gab viele Elefantenarten, die sich nur in der Form des Rückens, des Kopfes und des Rüssels geringfügig unterschieden.
Sie verständigten sich mit lautem Trompeten und zogen wie Geisterschiffe durchs Staub-Meer, das sie aufwirbelten. Wie diese großen Pflanzenfresser hingen auch viele andere Arten vom Gras ab: Hasen, Wildschweine, Schilfratten und Wühlschweine. Zu den Jägern der Pflanzenfresser zählten Schakale, Hyänen und Mungos, die wiederum noch stärkeren Tieren als Beute dienten.
Die Tiere der Savanne wären menschlichen Betrachtern erstaunlich bekannt vorgekommen, denn sie hatten sich schon gut an die dort herrschenden Bedingungen angepasst. Aber der Reichtum und die Vielfalt des Lebens hier hätten einen Beobachter dennoch verblüfft, der nur das Afrika des Menschenzeitalters kannte. Dies war mit Blick auf Anzahl, Vielfalt und Populationsgröße der Säugetierarten die reichste Region der Erde. An diesem überfüllten Ort mit dem fein austarierten Ökosystem lebten Savannen-Bewohner wie Antilopen und Elefanten direkt neben Waldbewohnern wie Schweinen und Ratten. Das Rift Valley war eine üppige Landschaft, die vielen Tierarten wie Elefanten, Schweinen, Antilopen – und Hominiden Gelegenheit zur Anpassung geboten hatte. Das war der Schmelztiegel, in dem Weits Art sich entwickelt hatte.
Aber sie waren nicht hier geblieben.
Nach Capos Ära hatte Weits Art die letzten urzeitlichen Fesseln des Walds abgestreift, war zu Nomaden geworden und hatte sich über Afrika hinaus ausgebreitet: Die ersten Hominiden waren bereits entlang der ganzen Südküste der asiatischen Landmasse ausgeschwärmt. Doch dann hatten Weits Großmütter unwissentlich einen großen Bogen nach Norden, Osten und Süden geschlagen und waren nach vielen Generationen hierher zurückgekehrt, an den Ort, an dem ihre Art entsprungen war.
Weit saß auf der Felskuppe und ließ den Blick prüfend und berechnend über die Landschaft schweifen. Auf ihren Wanderungen folgten die Leute meistens Wasserläufen. Sie waren von Norden zu diesem Ort gekommen, und sie sah den Strom, dem sie gefolgt waren – eine silberne Schlange, die sich durch das Gras und das Buschland schlängelte. Entlang der Ufer war das Land morastig und mit Nährstoffen schier geschwängert. Dort wuchs eine Vielfalt von Bäumen, Büschen und Gräsern, zwischen denen statuettenartige Termitenhügel aufragten. Im Osten stieg das Gelände an und wurde trocken und öde, und im Westen wurde der Wald dichter und bildete einen undurchdringlichen Gürtel. Als sie jedoch nach Süden schaute, erkannte sie die Möglichkeiten von morgen, einen Savannen-Korridor mit der Mischung aus Gras, Büschen und Wäldchen, wie die Leute sie bevorzugten.
Weit war noch jung. Sie machte sich erst noch mit der Welt vertraut und lernte, wie sie sie sich zunutze machen konnte. Aber sie hatte ein tiefes Verständnis der Umwelt. Sie war bereits in der Lage, eine unbekannte Landschaft wie diese einzuschätzen und Nahrungs-, Wasser- und Gefahrenquellen auszumachen – und sogar Routen für die weitere Wanderung zu planen.
Diese Fähigkeit war notwendig. Nachdem Weits Art durch widrige Umstände auf offenes Land verschlagen worden war, hatte sie ein neues Bewusstsein für die Natur entwickeln müssen. Sie war gezwungen, die Gewohnheiten der Wildtiere zu verstehen, die Verteilung der Pflanzen, den Wechsel der Jahreszeiten und die Bedeutung von Spuren, um die endlosen Rätsel der komplexen Savanne – die keinen Fehler verzieh – zu lösen. Im Gegensatz dazu hatte ihr entfernter Vorfahr Capo, der ein paar tausend Kilometer nordwestlich von diesem Ort gelebt hatte und gestorben war, die Merkmale seines üppigen Waldes sich eingeprägt: Unfähig, das Land zu begreifen und neue Muster zu erkennen, hatte das Neue ihn immer wieder in Staunen versetzt.
Nun kehrten die Erwachsenen mit den Kindern zum Felsen zurück. Sie brachten Nahrung mit. Weil sie nackt waren, trugen sie nur so viel, wie sie mit den Händen zu greifen und im Arm zu halten vermochten. Die meisten von ihnen kauten mit vollem Mund. Die Leute aßen so schnell sie konnten. Sie bedienten sich selbst und fütterten nur enge Familienangehörige, wobei sie auch einem Mundraub nicht abgeneigt waren, wenn sie glaubten, nicht dabei erwischt zu werden. Die Mahlzeit verlief schweigend und wurde nur von Rülpsern, genüsslichem beziehungsweise ärgerlichem Grunzen unterbrochen, wenn jemand einen verfaulten Happen erwischte und einem gelegentlichen Wort – »Mir!«, »Nuss«, »Knacken«, »Weh weh weh…«
Das waren simple Substantive und Verben, besitzanzeigende und fordernde Sätze aus einem Wort ohne inhaltliche und grammatische Struktur. Und doch war es eine Sprache: Die Worte waren Begriffe, die sich auf konkrete Dinge bezogen – ein System, das dem Schnattern von Capos Horde und allen anderen Tieren weit überlegen war.
Da kam Weits Bruder, der Bengel. Er trug den schlaffen Kadaver eines kleinen Tieres, vielleicht eines Hasen. Und ihre Mutter Ruhig trug einen Arm voll Wurzeln, Früchte und Palmmark.
Weit bekam plötzlich Hunger. Sie eilte wimmernd, mit ausgestreckten Armen und offenem Mund zu ihrer Mutter.
Ruhig zischte sie an und drehte sich mit der Nahrung theatralisch von ihrer Tochter weg. »Mir! Mir!« Das war ein Tadel, der von bösen Blicken ihrer Großmutter noch verstärkt wurde. Weit war nämlich schon zu alt, um wie ein kleines Kind zu betteln. Sie hätte lieber mitkommen und ihrer Mutter helfen sollen, anstatt ihre Energie damit zu vergeuden, sinnlos durch die Landschaft zu laufen. Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder, dem Bengel, der hart gearbeitet und sogar eigenes Fleisch erbeutet hat… All das in einem Wort.
Man lebte nicht mehr so in den Tag hinein wie in Capos Zeit. Heute versuchten die Erwachsenen, den Kindern etwas beizubringen. Die Welt war zu komplex geworden, als dass die Kinder noch die Zeit gehabt hätten, alle Überlebens-Techniken von Grund auf zu erlernen; man musste sie das Überleben lehren. Und eine der Aufgaben der Alten wie Weits Großmutter bestand darin, ihnen dieses Wissen zu vermitteln.
Dennoch streckte Weit wieder die Hände aus und winselte kläglich wie ein Tier. Nur noch dieses eine Mal. Nur noch heute. Morgen werde ich mithelfen.
»Graah!« Wie Weit kalkuliert hatte, ließ Ruhig die Nahrung auf den Boden fallen. Sie hatte Nüsse und Schmink-Bohnen gesammelt und gab Weit eine Schote, in die sie gleich hineinbiss.