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Bengel setzte sich zu seiner Mutter. Er war noch zu jung, um bei den Männern zu sitzen, die sich über ihre eigene Nahrung hermachten. Bengel hatte seinen Hasen mit aller Kraft mittendurch gerissen. Nun riss er den Kopf und die Gliedmaßen ab und schlitzte mit einem spitzen Stein den Brustkorb auf. Aber der kleine Metzger mühte sich sichtlich.

Seine Familie wusste es nicht, aber er war schwer an Hypervitaminose erkrankt. Ein paar Tage zuvor hatte einer der Männer ihm ein paar Brocken von einer Hyänenleber gegeben, die sie in einem kurzen Kampf über den Überresten einer Antilope erlegt hatten. Wie bei den meisten Fleisch fressenden Räubern war die Leber voller Vitamin A gewesen, und diese schleichende Vergiftung würde sich bald im Körper des Jungen bemerkbar machen.

In einem Monat würde er tot sein. In einem Jahr hätte selbst seine Mutter ihn vergessen.

Doch fürs Erste knuffte Ruhig ihn sanft, nahm ihm einen Teil des Hasen ab und gab ihm zu verstehen, dass er mit seiner Schwester teilen sollte.

Seit Capos Zeit war die Welt ständig kühler und trockener geworden.

Nördlich des Äquators erstreckte ein großer Taiga-Gürtel sich über Nordamerika und Asien um die Welt – ein Wald aus immergrünen Bäumen. Und im hohen Norden hatte sich zum ersten Mal seit dreihundert Millionen Jahren eine Tundra herausgebildet. Der Lebensraum, den die Tiere in der Taiga vorfanden, war karg im Vergleich zu den alten Mischwäldern aus Laub- und Nadelbäumen. Gleichzeitig dehnte das Grasland sich aus – Gras war anspruchsloser als Bäume. Jedoch vermochten die Grasflächen im Vergleich zu den schrumpfenden Waldgebieten nur einer verringerten Zahl von Tierarten einen Lebensraum zu bieten. Schließlich kam es im Lauf der Austrocknung wieder zu einem Artensterben.

Trotz abnehmender Qualität war die Quantität des Lebens aber erstaunlich.

Das Erfordernis, jahreszeitlich bedingte Verknappungen des Nahrungsangebots zu überstehen und die Anforderung an den Magen, ganzjährig minderwertige Nahrung zu verdauen, begünstigte die Entwicklung großer Pflanzenfresser. Große Säugetiere, eine neue ›Megafauna‹ in einem Maßstab, wie man ihn seit dem Tod der Dinosaurier nicht gesehen hatte, breiteten sich über die Welt aus. Die urtümlichen Mammuts hatten sich bereits über das nördliche Eurasien verbreitet und wanderten über Landbrücken, die durch den sinkenden Meeresspiegel in regelmäßigen Abständen geschlagen wurden, nach Nordamerika ein. Die in gemäßigtem Klima lebenden Tiere hatten kein Fell und ernährten sich von Blättern anstatt von Gras. Sie sahen aus wie typische Elefanten, hatten aber schon die hohen Kronen und geschwungenen Stoßzähne ihrer wuscheligen Nachfahren.

Gleichzeitig existierten Riesenkamele in Nordamerika, und Asien und Afrika wurden vom mächtigen moschusochsenartigen Sivatherium durchstreift. Eine Art großes Nashorn mit der Bezeichnung Elasmotherium machte das nördliche Eurasien unsicher. Für ein Rhinozeros hatte es lange Beine und ein Horn, das eine Länge von bis zu zwei Metern erreichte. Es sah aus wie ein muskulöses Einhorn.

Und im Gefolge dieser mächtigen Fleischpakete tauchten neue spezialisierte Räuber auf. Die neu entwickelten Katzen hatten die Technik des Tötens perfektioniert. Mit den seitlichen Reißzähnen vermochten sie die Haut zu durchstoßen, zu zerfetzen und in den Körper einzudringen, um dann mit den Schneidezähnen ins Fleisch zu beißen. Die Säbelzahntiger waren die Krönung. Sie waren doppelt so groß wie die Löwen des Menschenzeitalters und mächtige, muskulöse Räuber. Sie hatten die Statur von Bären und kurze kräftige Gliedmaßen. Sie waren auf Kraftentfaltung ausgelegt, nicht auf Geschwindigkeit, und jagten aus dem Hinterhalt. Ihr Maul war so groß, dass sie die Beute darin zu zermalmen vermochten. Gegen die Katzen wirkten selbst die Hunde wie Generalisten; die Katzen wurden die perfekten Landjäger.

Da ertönte ein Ruf von der Ebene. »Schau, schau! Ich, schau ich!« Leute standen auf und schauten, was los war.

Ein Mann näherte sich. Er war groß, muskulöser als der Rest und hatte einen dicken Augenwulst, der wie ein Erker vorsprang. Dieser Mann, Braue, hatte derzeit die Führung inne und war der Chef der engen, wettbewerbsorientierten Gemeinschaft der Männer. Und er hatte sich ein totes Tier um die Schultern gelegt, eine junge Elenantilope.

Die acht anderen erwachsenen Männer der Gruppe jubelten und schrien pflichtschuldig und rannten den felsigen Abhang hinunter. Sie klopften Braue auf den Rücken und strichen respektvoll über das Tier. Dann liefen sie umher und führten einen Freudentanz auf, wobei sie eine spektakuläre Staubwolke aufwirbelten, die glühend im Licht der untergehenden Sonne hing. Gemeinsam schleppten sie die Antilope den Hang hinauf und warfen sie auf den Boden. Die älteren Kinder kamen herbei gerannt, bestaunten das Tier und stritten sich schon um das Fleisch. Bengel war auch dabei. Er war aber schon so geschwächt, dass die anderen Kinder ihn mit Leichtigkeit abdrängten. Weit sah, dass ein abgebrochener Speer in der Brust der Antilope steckte. Damit hatte Braue seine Beute getötet; er hatte wohl im Hinterhalt gelegen und den Speer vielleicht dort stecken lassen, um seine Leistung zu dokumentieren.

Braue protzte inzwischen mit einer eindrucksvollen Erektion. Die Frauen, einschließlich Ruhig, Weits Mutter, machten subtile Zeichen der Bereitwilligkeit – eine einladende Handbewegung hier, leicht gespreizte Schenkel dort.

Weit, die noch keine Frau, aber auch kein Kind mehr war, hielt sich im Hintergrund. Sie knabberte an einer Wurzel und harrte der Dinge, die da kommen würden.

Ein paar Erwachsene hatten vulkanische Kieselsteine aus dem nahe gelegenen Fluss mitgebracht. Nun bearbeiteten Männer und Frauen die Kieselsteine mit flinken Bewegungen, wobei sie die Steine mit den Fingern erforschten. Die Steine verwandelten sich ohne eine bewusste Anstrengung in Werkzeuge – dies war eine schon alte Fähigkeit, die in einen separaten Abschnitt eines starr strukturierten Bewusstseins eingebettet war –, und schon nach wenigen Minuten hatten sie primitive, aber brauchbare Hack- und Schneidwerkzeuge angefertigt. Sobald ein Werkzeug fertig war, fiel der Hersteller damit über die Antilope her.

Die Haut wurde vom After bis zum Hals aufgeschnitten und vom Körper abgezogen. Die Haut wurde weggeworfen; bisher hatte noch niemand eine Verwendung für Tierhäute gefunden. Der Kadaver wurde schnell zerlegt. Die scharfen Steinklingen schnitten in Gelenke, trennten Gliedmaßen ab und zerteilten sie, durchdrangen den Brustkorb, legten die weichen, warmen inneren Organe frei und lösten schließlich das Fleisch von den Knochen.

Es war eine schnelle, effiziente und fast unblutige Angelegenheit: Hier waren erfahrene Fleischer am Werk, die ihr Handwerk durch Generationen lange Übung erlernt hatten. Aber die Fleischer arbeiteten nicht zusammen. Obwohl sie Braue respektierten und ihm zugestanden, sich die besten Stücke sowie Herz und Leber zu nehmen, konkurrierten sie beim Ausnehmen des Kadavers und grunzten und gifteten sich gegenseitig an. Trotz der Werkzeuge in den Händen machten sie sich wie ein Wolfsrudel an der Antilope zu schaffen.

Die Frauen beteiligten sich kaum am Kampf ums Fleisch. Der unspektakuläre Streifzug durch den Akazienhain und das umliegende Gelände war erfolgreich gewesen, und ihre Bäuche und die der Kinder waren schon voller Feigen, Lavendel, Beeren, Grasschösslingen und Wurzeln – Früchte des Landes, die man vorm Essen nicht großartig zubereiten musste.

Als das Fleisch fast vollständig entbeint war, schritt man zur Verteilung. Braue stolzierte mit dem Messer in der einen und einem großen Haxenstück in der anderen Hand zwischen den Männern umher. Er schnitt Stücke vom Fleisch ab und reichte sie an ein paar Männer weiter – aber nicht an alle. Diejenigen, die er übergangen hatte, wandten sich ab. Doch sie würden später versuchen, Stücke des besten Fleischs von den anderen zu klauen. All das gehörte zu den endlosen Machtspielchen der Männer.