Und genau in der Mitte dieses ökologischen Hexenkessels waren die Kinder von Capo.
Der nächste Morgen dämmerte hell an einem ausgewaschenen blauen Himmel. Die Luft war jedoch sehr trocken und hatte einen seltsam stechenden Geruch, und die Hitze wurde bald unerträglich. Die Tiere der Savanne schienen den Atem anzuhalten. Sogar die Vögel waren still; die Aasfresser hockten wie hässliche schwarze Früchte in ihren Nestern.
Mit der kahlen, schwitzenden Haut waren die Leute so gut für diese trockene Hitze gerüstet wie alle hiesigen Spezies. Doch auch sie begannen lustlos den Tag. Sie wanderten auf ihrer Felseninsel umher und wühlten in den Überresten der Mahlzeit vom Vortag.
Dies war keine besonders üppige Gegend. Die Leute besprachen ihre Pläne nicht – das taten sie nie, zumal sie auch gar keinen Plan hatten –, aber es war offensichtlich, dass ihres Bleibens hier nicht länger war. Binnen kurzem brachen ein paar Männer zum Wasserlauf auf, um die Wanderung gen Süden fortzusetzen.
Der Zustand Bengels hatte sich über Nacht jedoch verschlechtert. Die Fußsohlen waren aufgesprungen und sonderten wässrigen Eiter ab, und als er sie mit seinem Gewicht zu belasten versuchte, schrie er vor Schmerzen auf. Er würde heute nirgendwo hingehen.
Ruhig, Weits Großmutter und die meisten anderen Frauen blieben in Bengels Nähe. Was die Männer betraf, so ignorierten die Frauen einfach ihre Faxen, mit denen sie ungeduldig auf der Spur hin- und hergingen, deren Anfang in Richtung Süden sie schon gelegt hatten.
Dieser stumme Konflikt wegen des Tagesablaufs war schmerzlich für sie alle. Es war ein echtes Dilemma. Die Savanne war nämlich nicht wie der üppige, schützende Wald früherer Zeiten; man konnte nicht einfach eine beliebige Richtung einschlagen. In diesem kargen Land wurden die Leute jeden Tag mit der Frage konfrontiert, wo sie Nahrung und Wasser suchen und welche Gefahren sie meiden mussten. Selbst wenn sie sich nur einen einzigen Fehler leisteten, hätte das gravierende Konsequenzen. Die Läufer hatten nur wenige Kinder und investierten viel Zeit und Mühe in jedes einzelne; da setzte man sie nicht leichtfertig der Gefahr aus.
Schließlich gaben die Männer nach. Ein paar kehrten zum Felsen zurück und machten in der heißen Mittagssonne ein Nickerchen. Eine paar andere folgten unter der Führung von Braue der Spur einer Elefantenherde, eins deren Mitglieder zu humpeln schien. Der Rest der Männer, die Frauen und die Kinder schwärmten zu den Stellen aus, an denen sie tags zuvor schon nach Nahrung gesucht hatten.
Um zu überleben, mussten die Leute diese Lebensweise adaptieren. Sie mussten eine Ausgangsbasis errichten, von der aus sie Nahrung suchten und auf der sie Nahrung und Arbeit teilten. In der offenen Ebene mussten die Leute sich die Nahrung hart erarbeiten, und die nur langsam heranwachsenden Kinder erforderten einen großen Aufwand bei Pflege und Versorgung. Sie mussten zusammenarbeiten und teilen, auf die eine oder andere Art. Aber es gab keine Planung im eigentlichen Sinn. In vielerlei Hinsicht glichen sie eher einem Wolfsrudel als einer menschlichen Gemeinschaft.
Weit verbrachte fast den ganzen Morgen im zertrampelten Dickicht, in dem ihre Mutter tags zuvor zugange gewesen war. Der Boden war schon umgegraben worden, und um Wurzeln und Früchte zu finden, musste sie ihn noch einmal gründlich durchwühlen. Bald war sie verschwitzt, schmutzig und verspürte ein Gefühl des Unbehagens. Sie war rastlos und fühlte sich eingesperrt, und die langen Beine, die sie auf dem zertrampelten Boden unter sich verschränkt hatte, begannen zu schmerzen.
Gegen Mittag vertiefte die bleierne Stille dieses unheimlichen, bedrückenden Tags sich noch mehr. Weit hörte den Lockruf der offenen, freien Savanne, wie sie ihn am Vortag schon vernommen hatte. Als die Leere im Bauch ausgefüllt war, wurde der Druck des Überlebens und der familiären Verpflichtungen von der Sehnsucht überlagert, von hier zu verschwinden.
Eine Palme hatte die Heimsuchung durch die Deinotheria überlebt und war in der Baumkrone mit Nüssen gespickt. Ein junger Mann huschte mit einer Eleganz den Baum hinauf, die aus der tief im Körper verwurzelten Erinnerung an grünere Zeiten genährt wurde. Weit beobachtete die geschmeidigen Bewegungen seines Körpers und verspürte ein eigenartiges Ziehen im Unterleib.
Sie traf eine Art Entscheidung. Sie ließ die Nahrung fallen, trat aus dem Dickicht hinaus und rannte gen Westen davon.
Sie verspürte eine ungeheure Erleichterung, als die Glieder wirbelten, die Lunge pumpte und sie den trockenen körnigen Schmutz unter den Füßen spürte. Für eine Weile lief sie ohne zu denken dahin, und sogar die Hitze des Tages schien gelindert zu werden, als der durchs Laufen verursachte Windhauch die Haut kühlte.
Dann rollte ein tiefes, bedrohliches Grollen durch den Himmel. Sie blieb stehen, ging in die Hocke und schaute sich furchtsam um.
Das helle Sonnenlicht trübte sich ein. Dicke schwarze Wolken verdunkelten von Osten her den Himmel. Sie erschrak vor einem purpurnen Lichtblitz, der die Wolken von innen erhellte. Fast sofort ertönten ein peitschender Knall und ein tiefes, anhaltendes Donnern, das durch den Himmel zu rollen schien.
Sie schaute zum Felsen zurück, der plötzlich sehr weit entfernt schien und sah, dass die Leute umherliefen und die kleinen Kinder aufsammelten. Mit hämmerndem Herzen richtete Weit sich auf und machte sich auf den Rückweg.
Und dann öffnete der verdunkelte Himmel die Schleusen. Die schweren Regentropfen prasselten auf die nackte Haut und den ungeschützten Kopf und schlugen kleine Krater in den Schmutz. Der Boden verwandelte sich alsbald in klebrigen Matsch, der ihr an den Füßen haftete und sie bremste.
Wieder zuckte ein Blitz auf, diesmal als großer Licht-Fluss, der kurz den Himmel mit der Erde verband. Betäubt stolperte sie und fiel in den Matsch. Infernalischer Lärm umtoste sie, als ob der Weltuntergang bevorstünde.
Sie sah, dass die hohe Palme in der Mitte der Lichtung der Länge nach gespalten war und brannte. Die Flammen züngelten an den Palmwedeln, die schlaff von der Baumkrone hingen. Das Feuer breitete sich schnell über das restliche Dickicht aus und griff dann aufs trockene Gras der Ebene über.
Eine grauschwarze Rauchwolke stieg vor ihr auf. Sie kam wieder auf die Füße und versuchte weiterzulaufen. Trotz des anhaltenden Regens breitete das Feuer sich jedoch schnell aus. Es war ein sehr trockener Sommer gewesen, und die Savanne war mit vergilbtem Gras, vertrockneten Büschen und umgestürzten Bäumen bedeckt, die wie Zunder brannten. Irgendwo trompetete ein Elefant. Weit erkannte dünne Gestalten, die durch den Rauch flohen – vielleicht Giraffen.
Die Hominiden waren aber in Sicherheit. Die Flammen züngelten harmlos am Rand der Felseninsel. Der Rauch und die Hitze würden ihnen zwar zusetzen, aber niemand würde daran sterben. Und wenn Weit den Felsen erreichte, wäre auch sie in Sicherheit. Aber sie war noch hunderte Meter entfernt und wurde zudem durch den Vorhang aus Rauch und Feuer von ihm abgeschnitten. Die Flammen breiteten sich als Lauffeuer durch das lange trockene Gras aus. Die Halme verbrannten in einem Wimpernschlag. Die verqualmte Luft verursachte einen Hustenreiz. Schwelende, versengte Pflanzenreste flogen durch die Luft. Wenn sie auf sie niedergingen, verursachten sie einen brennenden Schmerz.
Sie tat das Einzige, was sie zu tun vermochte. Sie machte kehrt und rannte: rannte nach Westen, weg vom Feuer und weg von der Familie.
Sie hörte nicht auf zu rennen, bis sie zu einem dichten Wäldchen gelangte. Vor der massiven grünen Wand hielt sie für einen Moment inne. Hier lauerten andere Gefahren, doch zumindest war dieser Ort nicht durch das Feuer bedroht. Sie drang in den Wald ein.