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Als die verblüfften Paläontologen der Zukunft diese Vielfalt aus fragmentarischen Fossilien und Steinwerkzeug zu rekonstruieren versuchten, ersannen sie weit verzweigte Stammbäume und Nomenklaturen und benannten die imaginierten Spezies als Kenyanthropus platypos, oder Orrorin tugenenis, Australopithecus garhi, africanus, afarensis, bahrelghazali, anamensis oder Ardipithecus ramidus, oder Paranthropus robustus, boisei, aethiopicus, oder Homo habilis… Doch nur wenige dieser Namen entsprachen der Realität. Zumal die Grenzen zwischen den solcherart kategorisierten Geschöpfen fließend waren. Draußen in der wirklichen Welt spielten solche Etiketten natürlich keine Rolle; es gab nur Individuen, die ums Überleben kämpften und ihren Nachwuchs aufzogen, wie sie es seit alters her getan hatten.

Die meisten dieser vielen Arten würden sich in der Zeit verlieren und ihre Gebeine vom gefräßigen Grün des Waldes verschlungen werden. Kein Mensch würde je erfahren, wie es war, in einer solchen Welt zu leben, in der so viele Arten von Vormenschen sich tummelten. Es war ein blubberndes evolutionäres Ferment, in dem viele Varianten aus einem grundlegend neuen, erfolgreichen Bauplan entsprangen.

Jedoch hatte keine dieser Myriaden Arten eine Zukunft, weil all diese Affen-Menschen sich an den Wald klammerten. Ihre Finger und Zehen blieben lang, und die Beine waren ein Kompromiss zwischen dem auf Knöcheln gehenden Baum-Kletterer und dem Zweibeiner. Am Abend bauten sie in den Baumkronen Nester, wie ihre im Wald lebenden Vorfahren es getan hatten. Und ihr Gehirn war auch nicht wesentlich größer geworden als das von Capo und ihren Verwandten, den urzeitlichen Schimpansen, weil sie mit der minderwertigen Nahrung kein größeres Gehirn zu unterstützen vermochten.

Vier Millionen Jahre lang waren die Pithecinen ein weit verzweigter, vielgestaltiger und sehr erfolgreicher Stamm der Hominiden-Familie. Am Anfang waren die Affen-Menschen auch die einzigen Hominiden auf der Welt gewesen. Jedoch war ihre Zeit der bedeutenden Veränderungen schon vorüber. Sie waren der Versuchung durch den Schutz und die Sicherheit des Waldes erlegen, und dadurch hatten sie sich selbst vieler Möglichkeiten beraubt. Die Zukunft gehörte einem anderen Stamm von Hominiden – auch Abkömmlinge des Pithecinen-Stamms –, die im Gegensatz zu den Pithecinen aber den entscheidenden Absprung aus dem Wald geschafft hatten.

Die Zukunft gehörte Weit.

III

Zögernd öffnete sie die Augen. Sie sah einen schmutzigen Boden, der unter dem Gesicht anstieg. Als sie den Kopf hob, sah sie Helligkeit, die durch die dichten Baumwipfel gefiltert wurde.

Sie drückte gegen den Boden und stemmte den Körper in die Höhe. Laub und Schmutz klebten an ihren Brüsten und der verletzten Schulter. An einem Baumstamm zog sie sich hoch und blieb still stehen, bis das hämmernde Herz sich beruhigt hatte. Dann wankte sie durch den Wald, dem Licht entgegen.

Sie stolperte ins Tageslicht hinaus. Sie hob die Hand und beschirmte die Augen vor einer tiefen, sich rötenden Sonne. Das Land war versengt, das Gras geschwärzt, der Erdboden rissig und trocken. Doch hinter einer niedrigen Anhöhe sah sie das Glitzern von Wasser: einen Fluss, der zwischen erodierten, etwas weiter entfernten Hügeln hervortrat.

Sie kannte diesen Ort nicht. Sie hatte das Waldgebiet von Ost nach West durchquert.

Zaghaft ging sie weiter. Der verbrannte Boden war noch immer warm – hier und da schwelten noch Baumstümpfe und Büsche –, und die versengten Grashalme schnitten ihr in die Füße. Bald waren die Waden, die vom Aufenthalt im Wald ohnehin schon schmutzig waren, mit einer kohlrabenschwarzen Ascheschicht überzogen.

Aber sie schaffte es bis zum Wasser. Der Fluss war klar und floss schnell in seinem Bett über abgeschliffenen vulkanischen Kieseln. Versengte Pflanzenreste trieben auf der Wasseroberfläche. Sie tauchte das Gesicht hinein und trank gierig. Der Schmutz und das Blut wurden abgewaschen, und der hartnäckige Rauchgestank und -geschmack in Nase und Mund verschwanden.

Und dann hörte sie einen Ruf. Eine Stimme. Ein Wort. Aber es war kein Wort, das sie kannte.

Sie kroch aus dem Wasser und warf sich flach hinter einen verwitterten Felsen. In ihrer Welt verhießen Fremde nichts Gutes. Wie ihre Pithecinen-Verwandten waren ihre nomadischen Leute fremdenfeindlich.

Ein Mann kniete auf dem verbrannten Boden und suchte ihn mit flinken Bewegungen nach Nahrung ab, die das Feuer übrig gelassen hatte. Er war jung, hatte glatte Haut und dichtes Haar.

Er hob eine verkohlte Eidechse auf. Mit einer Art behauenem Stein – diese Form war ihr unbekannt – kratzte er die verbrannte Haut vom steifen Kadaver und legte einen rosigen Fleischhappen frei, den er sofort verspeiste. Dann fand er eine Schlange, eine Natter, die auch verkohlt und starr war. Er versuchte ihr die versengte Haut abzuziehen, aber sie war zu zäh, und er warf den Kadaver weg.

Und dann fand der Mann einen echten Schatz. Es war eine Schildkröte, die im eigenen Panzer gegrillt worden war. Er hob sie auf und drehte sie um, wobei er etwas vor sich hinmurmelte. Dann nahm er das Werkzeug – es war eine Steinklinge, aber sie war dreieckig und an allen Seiten scharfkantig – und rammte sie in den Halsansatz der Schildkröte. Mit einiger Anstrengung knackte er den Panzer und tranchierte das Fleisch mit dem Messer. Schildkröten waren eine bevorzugte Beute der Pithecinen-Jäger. Sie gehörten zu den wenigen Tieren der Savanne, die noch kleiner und langsamer waren als Hominide. Und die Angewohnheit der Schildkröten, sich im Boden einzugraben, bewahrte sie auch nicht davor, dass sie von klugen Tieren mit Stöcken ausgegraben wurden und dass ihr – für Löwen- und Hyänenzähne undurchdringlicher Panzer – mit speziellen Werkzeugen geöffnet werden konnte.

Weit war von der Steinaxt des jungen Manns fasziniert. Mit den scharfen Schneiden und den glatten Flächen war sie den Hack-Steinen und pithecinenartigen Schneidwerkzeugen ihrer Leute weit überlegen. Auf einer tiefen somatischen Ebene verstand sie das Werkzeug aber sofort; sie verspürte den Drang, den steinernen Keil in die Hand zu nehmen und ihn auszuprobieren.

So lang sie ihn sah, würde sie diesen jungen Mann mit dem Steinwerkzeug verbinden, das er so geschickt benutzte. Sie würde ihn sich als Axt vorstellen.

Plötzlich blickte Axt auf und schaute Weit direkt in die Augen.

Sie duckte sich hinter den Felsen. Aber es war schon zu spät.

Knurrend ließ er die Schildkröte fallen – der Panzer fiel klackend auf den versengten Boden – und hob die Steinaxt.

Sie hatte keine Fluchtmöglichkeit. Sie stand auf und spürte, wie seine Blicke über ihren Körper wanderten, über den noch immer feuchten Rücken und das Hinterteil. Er senkte die Axt und grinste sie an. Dann widmete er sich wieder der Schildkröte und fuhr fort, das Fleisch aus dem Panzer herauszulösen.

Rufe ertönten in der Ferne.

Sie sah noch mehr Leute, Leute wie sie: Erwachsene und Kinder, deren schlanke Gestalten wie Schemen über die versengte Ebene zogen. Sie untersuchten eine Ansammlung verbrannter verdrehter Kadaver. Das war eine Antilopenherde gewesen, die gerade Nachwuchs bekommen hatte; viele der unglücklichen Kreaturen waren in dem Moment verbrannt, als sie gekalbt hatten. Nun zerlegten die Leute mit ihren schönen Steinäxten die Ausbeute, und sie vermochte sogar von hier aus den köstlichen Duft gebratenen Fleischs zu riechen. Axt ließ die Schildkröte fallen und rannte zu seinen Leuten.