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Weit folgte ihm, nachdem der Heißhunger über die Vorsicht gesiegt hatte.

Bei Anbruch der Dunkelheit versammelten die Leute sich in einer Felsenhöhle, die ihnen einen gewissen Schutz vor den Räubern der Nacht bot.

Weit folgte ihnen. Wohin hätte sie auch sonst gehen sollen.

Sie wusste, dass sie nicht eine Nacht allein überleben würde. Sie spürte jetzt schon die kalten gelben Augen, die sie verfolgten, Augen, die in dem Wissen glühten, dass sie ein Außenseiter in dieser Gruppe war und dass sie nicht ihren vollen Schutz genoss. Sie war ein Ziel, eine potenzielle Beute, wie die Alten, die Jungen und Kranken.

Die Leute verjagten sie nicht. Aber sie hießen sie auch nicht willkommen. Doch als sie sich mit einem Stück Fleisch, das sie aus einem verbrannten Kadaver gerissen hatte, in eine Ecke der großen Höhle verdrückte, duldeten sie zumindest ihre Gegenwart.

Sie beobachtete, wie ein Mann einen Stein bearbeitete. Der Mann war alt, Ende Vierzig und dürr. Ein Auge wurde von einer hässlichen Narbe fast völlig verschlossen. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, saßen zu seinen Füßen. Sie waren nicht viel jünger als Weit. Sie schauten Narbengesicht bei der Arbeit zu und versuchten mit großen Steinen, die sie in den Händchen hielten, ihn nachzuahmen. Das Mädchen quetschte sich dabei den Daumen und quiekte vor Schmerz. Narbengesicht nahm ihr wortlos den Stein aus der Hand und drehte ihn. Dann zeigte er ihr, indem er ihr die Hand führte, wie man den Stein besser hielt. Als der Junge das sah, wurde er eifersüchtig und kniff das Mädchen, sodass sie den Stein fallen ließ. »Ich! Ich!«

Als die Nacht hereinbrach, widmeten viele Leute sich einer sanften stummen Fellpflege, einer Angewohnheit, die sie aus den Wäldern der Vorfahren mitgenommen hatten. Mütter liebkosten ihre Kinder, und Männer und Frauen betrieben gleichermaßen Politik ohne Worte, wobei sie Bündnisse zementierten und Hierarchien festigten. Manchmal artete das Kämmen in geräuschvollen Geschlechtsverkehr aus.

Weit, die Fremde, war von alledem ausgeschlossen. Als sie jedoch müde und erschöpft in den Schlaf sank, spürte sie den Blick von Axt auf sich.

Als sie aufwachte, war der Himmel außerhalb der Höhle schon strahlend hell.

Die Leute waren alle weg. Nur ein paar Fleischreste, Kothäufchen von Kindern und Urinpfützen kündeten noch von ihrer Anwesenheit.

Sie stand schnell auf. Die Prellungen am Rücken und an der Brust schienen zu einer einzigen schmerzenden Masse verschmolzen zu sein. Aber ihr junger Körper erholte sich schon wieder von den Strapazen, die er tags zuvor erlitten hatte, und sie hatte immerhin einen klaren Kopf. Sie eilte ins Licht.

Die Leute waren Richtung Norden zu einem See gezogen. Sie waren schlanke aufrechte Schemen, deren Konturen in der flimmernden Hitze weich gezeichnet wurden. Sie schritten zielstrebig aus. Weit rannte ihnen hinterher.

Das Seeufer war belebt. Weit erkannte viele Tierarten: Elefanten, Nashörner, Pferde, Giraffen, Büffel, Hirsche, Antilopen, Gazellen und sogar Strauße. Im Wasser tummelten sich Krokodile und Schildkröten, und Vögel flatterten durch die Luft. Die großen Pflanzenfresser, die sich am Wasser drängten, hatten die Landschaft verwüstet. Von dieser morastigen Arena schlängelten ihre breiten Trampelpfade sich in alle Richtungen. Im Terrain um den See wuchs nichts außer ein paar robusten Pflanzen, die von den Elefanten und Rhinozerossen verschmäht wurden und die sich schnell zu erholen vermochten, nachdem man auf ihnen herumgetrampelt hatte.

Die Leute gingen zum Wasser hinunter und wählten eine Stelle in der Nähe einer Elefantenherde aus. Jeder wusste, dass die Räuber sich nicht an Elefanten heranwagten. Die Elefanten ignorierten die Leute und widmeten sich ihren eigenen komplexen Verrichtungen. Ein paar gingen ins Wasser, spritzten sich nass und trompeteten laut. Gruppen von Kühen rumorten geheimnisvoll, und Bullen trompeteten und rammten sich mit langen Stoßzähnen. Diese mächtigen Tiere, die ›Landschaftsgärtner‹, waren muskulöse Kraftpakete und zugleich von einer majestätischen Eleganz.

Die meisten Frauen waren an der Wasserlinie zugange. Weit sah, dass eine das Nest einer Süßwasserschildkröte ausgehoben hatte; die länglichen Eier wurden geknackt und der Inhalt an Ort und Stelle verschlungen. Andere Frauen fischten die Schalentiere ab, die im seichten Gewässer reichlich vorkamen, und Süßwasserkrebse.

Weit sah, dass Axt mit dem Gros der Männer ins Wasser gewatet war. Er hatte einen hölzernen Speer in der Hand und stand reglos da, die Augen auf die schimmernde Wasseroberfläche geheftet. Nach einer Weile stach er mit einem lauten Platschen zu – und als er den Speer aus dem Wasser zog, steckte ein zappelnder Fisch daran. Axt zog den Fisch mit einem Jubelschrei vom Speer und warf ihn ans Ufer. Ein anderer Mann schwamm etwas weiter draußen auf einen Wasservogel zu, der nichts ahnend auf dem See umherpaddelte. Der Mann machte einen Satz, aber der Vogel ergriff unter viel Planschen, Schnattern und Schreien die Flucht.

Weit schloss sich den Frauen an.

Sie fand eine Königskrabbe, die durch einen schlammigen Kanal stakste. Sie war leicht zu fangen. Weit drehte die schwach mit den Beinen wedelnde Krabbe um. Mit einem Stein knackte sie das Oberteil des Panzers auf. Im Innern, am Kopfansatz, war eine Menge Eier wie dicke Reiskörner deponiert. Sie pulte sie heraus und stopfte sie sich in den Mund. Der Geschmack war sehr intensiv, wie traniger Fisch. Das restliche Fleisch der Krabbe erwies sich als zu zäh, als dass es sich gelohnt hätte, es herauszupulen. Sie warf den zertrümmerten Panzer weg und setzte die Nahrungssuche fort.

So verging der Vormittag, während die Leute sich der Nahrungssuche widmeten – eine Tierart von vielen in dieser belebten Savanne.

Gegen Mittag zogen die Leute sich satt und zufrieden vom Wasser zurück.

Doch Axt machte sich selbständig. Weit folgte ihm. Er schaute zu ihr zurück. Sie wusste, dass er wusste, dass sie ihm folgte.

Axt gelangte zu einem ausgetrockneten Flussbett, das mit abgeschliffenen Kieselsteinen übersät war. Er ging im Bett auf und ab und prüfte die Steine, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Es war ein etwa faustgroßer, abgeflachter und abgerundeter Stein. Dann hockte er sich ins Flussbett und suchte es ab, bis er einen geeigneten Hammer-Stein gefunden hatte. Er hatte etwas getrocknetes Strauchwerk dabei, das er zum Schutz über die gekreuzten Beine legte. Dann ging er ans Werk und bearbeitete den Stein, den er ausgewählt hatte. Bald stoben Splitter von den Steinen.

Weit saß zehn Meter entfernt. Sie hatte die Beine an die Brust gezogen, hielt sie mit den Händen umklammert und schaute ihm fasziniert bei der Werkzeugfertigung zu. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Axt und Weit waren nämlich in Werkzeugmacher-Kulturen aufgewachsen, die durch Jahrtausende getrennt worden waren.

Nachdem sie den Wald erst einmal hinter sich gelassen und sich endgültig für die Savanne entschieden hatten, war den Läufern gleich ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten eröffnet worden. Sie waren mehr als nur mobil. Sie wanderten. Aber diese Wanderung war ziellos. Für jedes Individuum ging es nur ums Überleben. Für Leute, die neue Landschaften zu erkunden vermochten, war es oft leichter, zu einem verheißungsvollen Platz weiterzuwandern als zu versuchen, sich an Ort und Stelle an widrige Bedingungen anzupassen.

Im Lauf der Generationen legten die Leute Tausende von Kilometern zurück. Sie verließen sogar Afrika und setzten den Fuß in Gebiete, die kein Hominide bisher betreten hatte. Bevor die Eiszeit die Welt in den Würgegriff nahm, hatten von Afrika bis nach Südeuropa, den Mittleren Osten und Südasien gemäßigte klimatische Bedingungen geherrscht. Beim Betreten dieser vertrauten Umgebung folgten die Leute dem leichtesten Weg der Küstenlinien: Sie zogen am Mittelmeer entlang, schwenkten dann landeinwärts und kolonisierten Griechenland, Italien, Frankreich und Spanien – genauso wie die Tiere, die später auf Afrika beschränkt waren: Elefanten, Giraffen und Antilopen. In östlicher Richtung kamen sie bis nach Indien, sickerten im späteren China ein und stießen in südlicher Richtung sogar bis nach Indonesien vor.