Als Axt fertig war, drehte er das von ihm geschaffene Werkzeug ostentativ in den Händen und präsentierte ihr die glatten Flächen und die feine Schneide. Es war schön, aber unpraktisch.
Weit, die in einer etwas anderen Kultur aufgewachsen war, vermochte sich keinen Reim auf seine Handlungen zu machen und wurde dadurch genauso verwirrt wie von Narben-Gesichts Täuschungsversuch. Aber sie spürte, dass Axt sich für sie interessierte, und es wurde ihr warm im Bauch. Und in einem nüchtern kalkulierenden Winkel des Bewusstseins wusste sie auch, dass, wenn sie Axts Gefährtin wurde – wenn sie schwanger wurde –, Teil seiner Gruppe würde und ihre Zukunft gesichert wäre.
Aber sie hatte noch nie Geschlechtsverkehr gehabt, mit niemandem. Sehnsüchtig und furchtsam zugleich saß sie am Rand des Flussbetts, die Beine noch immer an die Brust gezogen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Schließlich warf er die schöne Axt auf den Haufen zu den anderen. Konsterniert schaute er sie von der Seite an und ging weg.
Speziation – die Entstehung einer neuen Spezies – war ein seltenes Ereignis.
Eine Spezies verwandelt sich nicht fließend in eine andere. Speziation fand vielmehr dann statt, wenn eine Gruppe Tiere von der Hauptpopulation isoliert wurde und unter Überlebensdruck geriet. Die Isolation war einerseits physikalisch – wenn zum Beispiel eine Gruppe Elefanten durch eine Überschwemmung abgeschnitten wurde – oder verhaltensspezifisch, wenn beispielsweise eine Gruppe von Hominiden, die sich eine bestimmte Art des Aasfressens angeeignet hatte, von einer anderen Gruppe ausgeschlossen wurde, die dieses Verhalten nicht ausgeprägt hatte.
Variation war im Erbgut aller Spezies angelegt. Es war, als ob jede Spezies in einem bestimmten Moment auf einem Feld sich konzentrierte, dessen Grenzen der Umfang des möglichen Lebensraums waren. Eine isolierte Gruppe wurde nun in einer abgetrennten Ecke des Felds ausgesetzt. Und dann tat sich vielleicht eine Lücke im Außenzaun auf und gewährte Zugang zu einem anderen, leeren Feld, in das sie langsam einsickerte. Und dann wurde wieder eine Variation nötig, um den neuen Lebensraum auszufüllen – und wenn die erforderliche Variation im Erbgut nicht angelegt war, vermochte sie vielleicht durch Mutation zu entstehen.
Letzten Endes entfernten jene, die sich in die fernste Ecke des neuen Territoriums ausbreiteten, sich genetisch weiter von denen, die auf dem alten Feld geblieben waren. Wenn die Entfernung für eine Vermischung der alten mit den neuen Stämmen zu groß wurde, entstand eine neue Spezies. Wenn die trennenden Schranken irgendwann fielen, trat die neue Spezies möglicherweise in Konkurrenz mit der Eltern-Art – und verdrängte sie vielleicht.
Etwa dreihunderttausend Jahre zuvor, in einem anderen Teil von Afrika, war eine namenlose Gruppe Waldrand-Pithecinen durch einen Lavastrom von ihrem Territorium abgeschnitten und für alle Zeiten aus dem Wald verbannt worden.
Die Vertriebenen mussten sich vielen Herausforderungen stellen. Die alte Angewohnheit der Pithecinen, am Waldrand zu jagen, war schon mal ein Anfang gewesen, auf dem sie aufzubauen vermochten. Jedoch unterschied das Nahrungsangebot in der Savanne sich wesentlich vom Wald. Während der Wald ein stetiger Früchtelieferant gewesen war, wartete die Savanne in der Hauptsache mit Fleisch auf. Fleisch war eine hochwertige Nahrung, aber sie bestand aus Paketen, die über eine trockene, unwirtliche Landschaft verstreut waren – Paketen, die man erst einmal finden, fangen und zubereiten musste. Und nachdem es die Leute aus dem Schutz der Bäume in die offene Savanne verschlagen hatte, brauchten sie auch einen neuen Körper, um mit der Trockenheit und Hitze zurechtzukommen. Neue Verhaltensweisen waren erforderlich, um an die Ressourcen der neuen Umgebung zu gelangen – und sie mussten in einer Räuber-Hölle überleben.
Nach nur einem Dutzend Generationen waren Weits Ahnen nicht mehr wieder zu erkennen.
Der alte Primaten-Bauplan war geändert worden, und sie waren nun so groß, dass es alle menschlichen Proportionen sprengte. Weits Körper war viel massiger als die Affen-Vorfahren – sie war doppelt so schwer wie ein erwachsener graziler Pithecine. Die Masse war eine Adaption ans offene Land: Ein großer Körper vermochte nämlich mehr Wasser zu speichern, was ein wesentlicher Vorteil in der Savanne war, wo die Wasserquellen manchmal stundenlange Fußmärsche auseinander lagen.
Außerdem war ihr Stoffwechsel imstande, Körperfett zu bilden und subkutan zu speichern, denn Fett war eine wichtige Energiereserve. Mit zehn Kilogramm Fett vermochte ein Körper vierzig Tage ohne Nahrung auszukommen, was ausreichte, um auch die schlimmsten jahreszeitlichen Schwankungen zu neutralisieren. Das Fett hatte den Körper geformt und sie mit runden Brüsten, einem breiten Hinterteil und kräftigen Schenkeln ausgestattet, was ihr eine weitaus menschlichere Gestalt verlieh als den schimpansenartig schlaffen Pithecinen. Trotzdem war Weit kein Fettklops; sie war groß und schlank, sodass der Körper überschüssige Wärme gut abzuführen vermochte und nur eine verhältnismäßig kleine Fläche der Haut der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt war.
Eine weitere Anpassung an die Hitze bestand darin, dass sie außer am Kopf so gut wie keine Körperbehaarung hatte. Und im Gegensatz zu Capo und zu allen anderen Primaten außerhalb ihrer Artenfamilie schwitzte sie – denn blanke, schwitzende Haut regulierte die Temperatur bei Lebewesen, die zu einem Leben unter der tropischen Sonne verurteilt waren, viel besser als Haare. Schwitzen war jedoch in der Hinsicht paradox, dass Weit dadurch Wasser verlor. Also musste sie intelligent genug sein, um zum Ausgleich dieses Nachteils Wasserquellen zu finden; anders als die meisten ursprünglichen Savannenbewohner wäre ihre Art immer in einem gewissen Ausmaß auf Wasserläufe und die Küsten angewiesen.
Die wesentlichen Menschenaffen-Merkmale der Pithecinen – die Greiffüße, die langen Arme und der gebückte Gang waren bald verschwunden. Weits Füße waren zum Gehen und Rennen gemacht und nicht zum Klettern: Der große Zeh war nun ein richtiger Zeh und kein Daumen. Weits Brustkorb war jedoch etwas hoch, und die Schultern ziemlich schmal; auch jetzt wies ihr Körper noch Spuren der einstigen Anpassung an den Wald auf – wie auch bei den modernen Menschen, wie bei Joan Useb.
Ihr Gehirn war zwischenzeitlich auf die über dreifache Größe der Pithecinen-Gehirne angewachsen, um sich besser in unübersichtlichen Landschaften zu orientieren und in den immer komplexeren sozialen Strukturen großer Gruppen von Savannen-Jägern zurechtzufinden. Dieses große Gehirn benötigte sehr viel Energie, doch Weits Nahrung war viel hochwertiger als das Pithecinen-Futter und bestand aus reichlich proteinhaltigem Fleisch und Nüssen – deren Suche wiederum eine höhere Intelligenz erforderte. Also war sie in gewisser Weise zum Erfolg verdammt.
Indes beruhten diese durchaus drastischen Veränderungen auf einer evolutionären Strategie, die sich durch eine bemerkenswerte Ökonomie auszeichnete. Sie fußte nämlich auf Heterochronie – Ungleichzeitigkeit. Läufer-Babys sahen im Prinzip genauso aus wie die Jungen ihrer affenartigen Vorfahren und die späteren Menschenkinder: Sie hatten vergleichsweise große Köpfe mit einem kleinen Gesicht und einem kleinen Mund. Wollte man nun ein Capo werden, bildete man einen starken Kiefer aus und hielt den Kopf relativ klein. Ganz anders bei Weit: Ihr Kopf war größer geworden, während der Kiefer klein geblieben war. Auch der viel größere Körper war durch Wachstumsschübe zustande gekommen: Ihr Körper hatte in etwa die relativen Dimensionen eines fötalen Capo, der auf Erwachsenengröße aufgepumpt worden war.