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Die beachtliche Körpergröße und das große Gehirn hatten jedoch ihren Preis. Sie war unvollständig entwickelt auf die Welt gekommen, weil es sonst unmöglich gewesen wäre, den Kopf durch den Geburtskanal der Mutter zu pressen. Sie war ›unreif‹ geboren worden. Anders als die Menschenaffen und auch die Pithecinen vermochten die Läufer-Kinder erst lang nach dem Abstillen auf Nahrungssuche zu gehen: Außer der körperlichen Unreife verfügten die Neugeborenen auch nicht über die angeborene Fähigkeit, Nahrungsquellen wie erlegte Tiere, Muscheln und Nüsse zu nutzen – das mussten sie erst erlernen. Zugleich wurden die Kinder der Läufer in die Räuber-Hölle der Savanne hineingeboren. Deshalb brauchten die Kinder viel Aufmerksamkeit.

Diese kostspieligen, unselbständigen Kinder waren für die Läufer ein Wettbewerbsnachteil gegenüber den schnell sich vermehrenden Pithecinen, mit denen sie sich oft den Lebensraum teilten. Und das war auch der Grund, weshalb die Läufer die Tendenz entwickelten, länger zu leben.

Die meisten Pithecinen-Weibchen – wie die Primaten vor ihnen – starben bald, nachdem sie ihre fruchtbare Periode hinter sich hatten. Zumal auch nur wenige überhaupt die letzte Geburt überstanden. Die Läufer-Frauen und Männer lebten aber noch Jahre, gar Jahrzehnte nach dem Ende der Fortpflanzungsfähigkeit. Diesen Großmüttern und Großvätern kam nun eine wichtige Funktion in der Prägung der Läufer-Gesellschaft zu. Sie ermöglichten nämlich Arbeitsteilung: Sie unterstützten ihre Töchter bei der Kinderaufzucht, sie halfen bei der Nahrungssuche und sie gaben die komplexen Informationen weiter, auf die die Läufer zum Überleben angewiesen waren.

All das hatte eine effizientere Neukonstruktion des Körpers erfordert. Läufer-Körper waren viel langlebiger als die der Pithecinen und verfügten zudem über bessere Selbstheilungskräfte – nur nicht was die Fortpflanzungs-Organe betraf. Die Eierstöcke einer vierzigjährigen Läufer-Frau waren so stark degeneriert, wie der restliche Körper es im Alter von achtzig Jahren gewesen wäre, falls sie überhaupt so lang gelebt hätte.

Die Unterstützung der Großmütter bedeutete vor allem, dass ihre Töchter es sich zu leisten vermochten, öfter Kinder zu bekommen. Und in dieser Disziplin schlugen die Läufer die Pithecinen und die Menschenaffen. Fast alle Läufer-Kinder überlebten die Entwöhnung – die wenigsten Pithecinen-Jungen überlebten sie.

Für die Pithecinen war die Entstehung dieser neuen Art ein Desaster. Wegen ihrer engen Verwandtschaft bewohnten Läufer und Pithecinen den gleichen Lebensraum, und es kam auch kaum zu direkten Konflikten zwischen ihnen. Manchmal jagten Pithecinen Läufer, oder Läufer jagten Pithecinen, doch betrachteten sie sich gegenseitig als eine zu schlaue und gefährliche Beute, als dass es den Aufwand gelohnt hätte. Dennoch sollten die flexiblen, mobilen Läufer mit den großen Gehirnen ihre weniger intelligenten Verwandten allmählich verdrängen.

Letztlich waren weder die Werkzeugfertigung noch das Bewusstsein an sich ein Garant fürs Überleben.

Natürlich hätte das alles nicht passieren müssen. Ohne die Klimaschwankungen, die zufällige Isolierung von Weits Vorfahren wäre die Menschheit vielleicht nie entstanden: Es hätte nur die Pithecinen gegeben, aufrechte Schimpansen ohne richtige Sprache, die noch für ein paar Millionen Jahre primitive Werkzeuge fertigten und nichtige Händel austrugen, bis die Wälder schließlich ganz verschwanden und sie dem Untergang geweiht waren.

Das Leben war immer schon ein Glücksspiel gewesen.

Weit verbrachte die Nacht allein. Sie fror und schlief schlecht.

Als sie am nächsten Tag versuchte, sich in die Gruppe zu integrieren, schaute eine hochschwangere Frau sie finster an. Das war eine uralte Primaten-Herausforderung: War Weit hier, um sich Nahrung anzueignen, die sonst ihrem ungeborenen Kind zugute gekommen wäre?

Weit fühlte sich total isoliert. Sie hatte zu niemandem hier irgendwelche Bindungen. Es gab keinen Grund, weshalb diese Leute ihr Territorium und ihre Ressourcen mit ihr teilen sollten. Zumal dieser Ort auch nicht gerade ein Paradies zu sein schien. Obendrein schien sie nun auch noch bei Axt auf Ablehnung zu stoßen.

Im Lauf des Nachmittags ging sie als Erste allein zur Höhle im Sandsteinfelsen zurück. Sie ließ sich in der Ecke nieder, die sie inzwischen als ihren Platz betrachtete.

Und dann bemerkte sie ein paar rote Steinbrocken, die an der Rückwand der Höhle verstreut waren. Sie hob sie auf und betrachtete sie neugierig. Die Brocken waren weich und leuchteten hellrot im Tageslicht. Es handelte sich um Ocker-Klumpen mit der rötlichen Färbung von Eisenoxid. Irgendjemandem waren die Brocken ins Auge gestochen, und er hatte sie mit hierher genommen.

Sie sah rote Spuren auf verstreuten Basaltbrocken an der Rückwand der Höhle: Das Rot hatte die gleiche Farbe wie das Ocker – und wie Blut. Versuchsweise verschmierte sie das Ocker auf dem Gestein und sah zu ihrem Erstaunen, dass es nun noch mehr blutige Streifen aufwies.

Für eine Weile spielte sie mit den Ocker-Klumpen, ohne dass sie wusste, was sie tat. Ihre Finger entwickelten ein Eigenleben und fügten den wirren Mustern auf dem Gestein weitere hinzu.

Dann hörte sie die Rufe der Leute, die zum vorläufigen Stützpunkt zurückkehrten. Sie legte die Ocker-Klumpen dorthin zurück, wo sie sie gefunden hatte und verzog sich in ihre Ecke.

Aber die Handflächen waren hellrot: rot wie Blut. Im ersten Moment glaubte sie, sie hätte sich geschnitten. Als sie sich jedoch die Hände ablecke, schmeckte sie salzigen Sand, und die Schmiere ging ab.

Rot wie Blut. Zögerlich wurde eine Verknüpfung in ihrem Bewusstsein hergestellt, und Licht drang durch eine Ritze zwischen den Gedanken-Schubladen.

Sie ging zu den Ocker-Klumpen zurück und fuhr sich dann damit über den Handrücken, sodass ein Gewirr aus Linien entstand – und dann über die verheilende Pithecinen-Wunde an der Schulter, sodass sie wieder schön rot glänzte.

Und sie färbte sich auch zwischen den Beinen, färbte die Haut rot wie Blut. Sie schien zu bluten, wie sie ihre Mutter hatte bluten sehen.

Sie ging in ihre Ecke zurück und wartete, bis das Licht erlosch. Als die Leute ihre Fellpflege betrieben, rollte sie sich zusammen und versuchte zu schlafen.

Jemand näherte sich ihr. Er war warm und atmete leise. Es war Axt. Sie roch den Staubgeruch der Steinsplitter an seinem Bauch und den Beinen. Seine Augen waren dunkle Kreise im erlöschenden Licht. Der Moment zog sich in die Länge. Dann berührte er sie an der Schulter. Sie zitterte unter der schweren warmen Hand. Er beugte sich über sie und schnüffelte leise. Er nahm ihre Witterung auf, wie Braue es getan hatte, bevor sie von ihrer Familie getrennt worden war.

Sie spreizte die Beine, damit er das ›Blut‹ im letzten Licht zu sehen vermochte. Sie saß angespannt da und erwartete ihn.

Sie wusste, ihr Leben hing davon ab, dass er sie nahm. Vielleicht war es diese kreatürliche Angst und Sehnsucht, die Sehnsucht, dass er sie als Frau wahrnahm, die sie dazu veranlasst hatte, diese List zu ersinnen.

Im Gegensatz zu seinen im Wald lebenden Vorfahren war Axts stärkster Sinn das Sehen und nicht der Geruch, und so überlagerte die Botschaft von den Augen die Warnung der Nase. Er beugte sich vor und berührte sie an der Schulter, am Hals und an der Brust. Dann setzte er sich neben sie und kämmte ihr wirres Haar.

Langsam entspannte sie sich.

Weit blieb für den Rest ihres Lebens bei Axt. Doch so lang und wann immer sie die Möglichkeit hatte – derweil sie an Weisheit und Stärke gewann, derweil ihre Kinder heranwuchsen, bis sie ihr Enkel anvertrauten, damit sie sie wiederum beschützte und formte –, rannte sie, soweit die Beine sie trugen.