Und sie waren bewaffnet: mit hölzernen Wurfspeeren und kürzeren, kompakten Stoßspeeren. An Hartholzknüppeln waren Steinspitzen mit Harz und Lederschnüren befestigt. Das waren Waffen für Riesen, die ein Mensch kaum hochzuheben, geschweige denn zu werfen vermocht hätte.
Sie waren robuste Leute wie Kieselsteins Art. Er sah jedoch die ockerfarbenen Muster, mit denen sie Gesichter, Hände und Arme versehen hatten. Während Kieselsteins Körperbemalung aus vertikalen Linien bestand – Balken, Streifen und Bänder –, waren diese Leute mit einer Art Schraffur aus dicken Linien verziert.
Sie waren Fremde. Das sah man an der Körperbemalung. Und Fremde bedeuteten Ärger. Dies war ein Gesetz, das die gleiche Gültigkeit besaß wie der Aufgang der Sonne und des Monds.
Kieselstein wartete, bis die Neuankömmlinge hinter einem Akazienhain verschwunden waren. Dann rannte er so leise, wie der kompakte Körper es ihm erlaubte, nach Hause zurück. Die Maniokknollen, die er ausgegraben hatte, ließ er zusammen mit dem Grabstock zurück.
Kieselsteins Zuhause war eine Art Dorf aus vier großen Hütten, die in einem annähernden Rechteck um eine Lichtung angeordnet waren. Und doch war es kein Dorf, weil die Bewohner eine etwas andere Lebensweise als die Menschen hatten.
Kieselstein blieb keuchend auf der Lichtung stehen. Es war niemand draußen. Neben einer Hüttentür schwelte ein Feuer. Der zertrampelte Boden war mit Knochen, Pflanzenresten, Werkzeugen, Matratzen aus Laub und Gras, Rindenstücken, Holzsplittern, Keilen, zerbrochenen Speeren und Lederfetzen übersät. Es war eine regelrechte Müllkippe.
Die Hütten waren primitiv und hässlich, erfüllten aber ihren Zweck. Sie bestanden aus kräftigen jungen Stämmen, die annähernd kreisförmig in den Boden gerammt worden waren. Die Lücken zwischen den Stämmen hatte man dann mit gespaltenem Schilfrohr, überlappenden Blättern, Binsen und Rinde ausgefüllt. Zuletzt waren die Stämme an den Spitzen zusammengezogen und überlappend festgebunden worden. Das war eine Technik, die Capo bekannt vorgekommen wäre, denn vor fünf Millionen Jahren hatte er seine Baumwipfel-Nester schon auf die gleiche Art gebaut: Jede erzwungene Neuerung baute auf alten Techniken auf.
Die Hütten waren alt. Die Leute hatten schon seit Generationen hier gelebt. Im Boden unter Kieselsteins Füßen stapelten sich die Knochen seiner Vorfahren. Die Leute fühlten sich hier sicher. Das war ihr Ort, ihr Land.
Doch Kieselstein wusste, dass das alles sich vielleicht bald ändern würde.
Er hob den Kopf zum ausgewaschenen Himmel. »U-lu-lu-lu-lu! U-lu-lu-lu-lu…!« Das war ein Ruf der Gefahr und des Schmerzes, der erste Ruf, den ein Kind nach dem ›Fütter-mich‹-Schrei lernte.
Die Leute kamen aus den Hütten gerannt und aus der Umgebung, wo sie als Sammler und Jäger unterwegs gewesen waren. Sie scharten sich besorgt um Kieselstein. Es waren ihrer zwölf: drei Männer, vier Frauen, drei ältere Kinder – einschließlich Kieselstein selbst – und zwei Babys, die von ihren Müttern ängstlich festgehalten wurden.
Er versuchte ihnen zu sagen, was er gesehen hatte. Er deutete in die Richtung, wo er die Fremden gesehen hatte und rannte ein paar Schritte auf und ab. »Andere! Andere, andere, Jäger!« Er vollführte ein realistisches Schauspiel, wobei er gestikulierte, posierte und mit geschwellter Brust den Gang starker Jäger imitierte. Er stellte sogar mit der Mimik dar, wie sie den Leuten mit ihren mächtigen Fäusten den Schädel zertrümmerten.
Seine Zuhörer wurden ungeduldig. Sie wandten sich ab und schienen sich wieder ihren Verrichtungen wie Sammeln, Essen oder Schlafen widmen zu wollen. Ein Mann beobachtete Kieselsteins Darbietung jedoch aufmerksamer. Er war ein bulliger Typ, der noch kräftiger gebaut war als die meisten anderen. Seine Nase war in der Kindheit durch einen Unfall verunstaltet worden, wobei der Knorpel der großen fleischigen Nase zertrümmert worden war. Dieser Mann, Plattnase, war Kieselsteins Vater.
Kieselsteins Sprache war jedoch begrenzt. Sie bestand lediglich aus einer Aneinanderreihung konkreter Wörter ohne Grammatik und Syntax. Auch eine Million Jahre nach Weit war Sprache hauptsächlich eine soziale Fähigkeit, die nur für Klatsch und Tratsch verwendet wurde. Um Details und komplexe Informationen zu vermitteln, musste man sich mit Wiederholungen und endlosen Umschreibungen behelfen und dies mit Mimik, Gestik und ›Theater‹ unterlegen. Es fiel den Erwachsenen schwer, den Sinn von Kieselsteins Botschaft zu begreifen. Sie selbst sahen keine Fremden. Er log vielleicht oder übertrieb: Er war schließlich noch ein Kind. Der einzige Gradmesser für den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen waren die Leidenschaft und Energie, die er in seine Vorführung legte.
So lief das immer. Damit überhaupt jemand zuhörte, musste man schreien.
Schließlich gab Kieselstein es auf und setzte sich keuchend in den Schmutz. Er hatte sein Bestes gegeben.
Plattnase kniete neben ihm nieder. Plattnase glaubte seinem Sohn: Die Vorführung hatte ihn zu sehr angestrengt, als dass er gelogen hätte. Er legte seinem Sohn die Hand auf den Kopf.
Beruhigt berührte Kieselstein den Arm seines Vaters. Er spürte eine Reihe langer und gerader Narben, die parallel zum Unterarm verliefen. Diese Kratzer stammten aber nicht von Tieren. Plattnase hatte sie sich mit der scharfen Klinge eines Steinmessers selbst zugefügt. Kieselstein wusste, wenn er älter war, würde er sich dem gleichen Spiel, der gleichen Selbstverstümmelung unterziehen, die man stumm und mit einem Grinsen erduldete: Sie war ein Teil dessen, was seinen Vater ausmachte, war Teil seiner Stärke, und Kieselstein empfand es als tröstlich, diese Narben zu streicheln.
Einer nach dem andern gesellten die Erwachsenen sich zu ihnen.
Als der Moment des stillschweigenden Einverständnisses verstrichen war, stand Plattnase auf. Es bedurfte keiner Worte mehr. Jeder wusste, was zu tun war. Die Erwachsenen und die älteren Kinder durchstreiften die Siedlung auf der Suche nach Waffen. Es herrschte keine Ordnung in der Siedlung, und die Waffen und anderen Werkzeuge lagen dort herum, wo man sie zuletzt benutzt hatte – inmitten von Haufen aus Nahrungsmitteln, Schutt und Asche.
Trotz der Dringlichkeit bewegten die Leute sich jedoch eher gemächlich, als ob sie die Wahrheit immer noch nicht so recht glauben wollten.
Staub, Kieselsteins Mutter, versuchte ihr quengelndes Baby zu beruhigen, während sie die Ausrüstung zusammensuchte. Das offene, vorzeitig ergraute Haar war in einer exzentrischen Anwandlung immer mit einem trockenen duftenden Staub gepudert. Mit fünfundzwanzig alterte sie schnell und hinkte wegen einer alten Wunde, die nie richtig verheilt war. Seither hatte Staub doppelt so hart gearbeitet, und diese Belastung spiegelte sich in ihrer gebückten Haltung und dem verhärmten Gesicht wider. Aber sie hatte einen klaren Verstand und eine außerordentliche Vorstellungskraft. Sie dachte schon an die schweren Zeiten, die bevorstanden. Beim Blick in ihr Gesicht fühlte Kieselstein sich schuldig, weil er sie mit dieser Sache behelligt hatte…
Kieselstein hörte ein leises Zischen, sah einen Blitz. Er drehte sich um.
In einem traumgleichen Moment sah er den Speer im Flug. Er war aus einem schönen Stück Hartholz gearbeitet. Vor der Spitze war er am dicksten und verjüngte sich zum Ende hin, was ihm gute Flugeigenschaften verlieh.