Und dann war es, als ob die Zeit wieder in Fluss geriet.
Der Speer bohrte sich Plattnase in den Rücken. Er wurde auf den Boden geschleudert. Der Speer ragte ihm senkrecht aus dem Rücken. Er zuckte noch einmal und entlud explosiv den Darm. Eine schwarzrote Pfütze breitete sich unter ihm aus und tränkte den Boden.
Im ersten Moment war Kieselstein mit diesen Eindrücken überfordert – mit der Vorstellung, dass Plattnase so plötzlich gestorben war. Es war, als ob ein Berg plötzlich verschwunden oder ein See verdampft wäre. Doch Kieselstein hatte den Tod trotz seines jungen Lebens schon in allen Facetten kennen gelernt. Und er roch auch den Gestank nach Kot und Blut: Fleisch riecht, aber keine Person.
Ein Fremder stand zwischen den Hütten. Er war kompakt und kräftig. Er war in Häute gewickelt und hielt einen Stoßspeer in der Hand. Sein Gesicht war ockerfarbenen schraffiert. Er war derjenige, der Plattnase mit dem Speer niedergestreckt hatte. Und Kieselstein sah auch den zurückgelassenen Grabstock in der Hand des Fremden. Sie hatten ihn beim Maniokstrauch gesehen. Sie waren seiner Spur gefolgt. Kieselstein hatte sie hierher geführt.
Voller Wut, Furcht und Schuldgefühl rannte er los.
Doch er kam nicht weit. Seine Mutter hatte ihn an der Taille festgehalten. Auch wenn sie hinkte, war sie immer noch stärker als er, und sie schaute ihn plappernd an. »Dumm! Dumm!« Für einen Moment wurde Kieselstein wieder klar im Kopf. Nackt und unbewaffnet wie er war, wäre er sofort getötet worden.
Ein Mann kam aus der Siedlung gerannt. Er war nackt und hatte einen Stoßspeer. Er war Kieselsteins Onkel und stürzte sich auf den Mörder seines Bruders. Der Fremde wehrte den ersten Schlag ab, doch der Gegner riss ihn um. Die beiden gingen zu Boden, rangen miteinander und versuchten jeweils den entscheidenden Schlag oder Stoß anzubringen. Bald waren sie in einer Staubwolke verschwunden. Sie waren zwei Muskelpakete, die sich mit aller Kraft bekämpften. Es war wie ein Kampf zwischen zwei Bären.
Und nun quollen immer mehr Jäger über die Felskante und aus dem Wald. Männer und Frauen gleichermaßen, alle mit Speeren und Äxten bewaffnet. Sie waren schmutzverkrustet, mager und hatten einen harten Blick. Sie waren über Kieselstein und seine Gruppe gekommen, als sei sie eine ahnungslose Antilopenherde.
Kieselstein sah die Verzweiflung in den Augen der anderen. Diese Neuankömmlinge waren genauso wenig Nomaden oder instinktgetriebene Eroberer, wie Kieselsteins Leute welche gewesen wären. Nur eine schlimme Katastrophe konnte sie dazu veranlasst haben, auf Wanderschaft zu gehen, sich in ein neues, unbekanntes Land zu wagen und diesen plötzlichen Krieg zu führen. Doch wo sie nun einmal hier waren, würden sie auf Leben und Tod kämpfen, denn sie hatten keine andere Wahl.
Plötzlich ertönte ein Geheul. Der Jäger, der mit seinem Onkel gekämpft hatte, war wieder aufgestanden. Ein Arm baumelte blutig und gebrochen herab. Aber er grinste – der Mund war eine blutige Masse mit ausgeschlagenen Zähnen. Kieselsteins Onkel lag mit aufgeschlitzter Brust auf dem Boden.
Kieselsteins Leute hatten bereits zwei der drei Männer verloren: Plattnase und seinen Bruder. Sie standen auf verlorenem Posten.
Die Überlebenden ergriffen die Flucht. Es blieb ihnen keine Zeit, etwas mitzunehmen; keine Werkzeuge, keine Nahrung und nicht einmal die Kinder. Und die Jäger griffen sie auch noch auf der Flucht an und brachten sie mit dem stumpfen Ende der Speere zu Fall. Der dritte Mann wurde niedergestreckt. Die Jäger erwischten zwei Frauen und ein Mädchen, das jünger war als Kieselstein. Die Frauen wurden zu Boden geworfen, und die jungen Männer zogen ihnen die Beine auseinander und versuchten sich bei der Vergewaltigung zuvorzukommen.
Die Übrigen rannten immer weiter, bis die Verfolger schließlich aufgaben.
Kieselstein schaute den Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Jäger durchsuchten die Siedlung und gingen dabei auf einem Boden umher, der seit undenklichen Zeiten Kieselsteins Stamm gehört hatte.
Dann sah Kieselstein, dass nur noch fünf Dorfbewohner übrig waren. Zwei Frauen, einschließlich seiner Mutter, Kieselstein selbst, ein kleineres Mädchen und ein Baby – es war aber nicht Kieselsteins Schwester. Nur fünf.
Mit versteinertem Gesicht wandte Staub sich an Kieselstein und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mann«, sagte sie bedeutungsschwer. »Du.«
Das stimmte, wie er schreckerfüllt feststellte. Er war das älteste überlebende Mitglied des Stamms. Von den Fünf war nur noch das quengelnde Baby im Schmutz zu seinen Füßen männlichen Geschlechts.
Staub hob das mutterlose Baby auf und drückte es an sich. Dann kehrte sie der Heimat den Rücken und stapfte Richtung Norden, wobei sie mit dem hinkenden Gang unregelmäßige Spuren im Schmutz hinterließ.
Der ebenso verwirrte wie entsetzte Kieselstein folgte ihr.
II
Das Pleistozän, diese Eiszeit, war ein Zeitalter brutaler Klimaschwankungen. Dürre, Überschwemmungen und Stürme waren normale Erscheinungen. In dieser Periode ereignete sich eine ›Jahrhundertkatastrophe‹ alle zehn Jahre. Es war eine Zeit wilder Schwankungen, eine Zeit, in der das Klima Kapriolen schlug.
Es schuf eine Umwelt, die an alle Tiere, die in ihr lebten, hohe Anforderungen stellte. Um diese Veränderungen zu bewältigen, wurden viele Tiere intelligenter – nicht nur die Hominiden, sondern auch die Raubtiere und die Pflanzenfresser, ob Huftiere oder andere. Das durchschnittliche Säugetiergehirn sollte sich in den zwei Millionen Jahren des Pleistozän verdoppeln.
Die Familie der Hominiden-Spezies, zu der Kieselstein gehörte, war – wie so viele andere – weit südlich von hier in Afrika geboren worden. Sie waren intelligenter und stärker als Weits Leute und hatten sich in einem großen Bogen von Afrika nach Europa bis zur Eisgrenze und nach Asien ausgebreitet, wo sie bis nach Indien vorgestoßen waren. Sie hatten ihre Werkzeuge, ihre Lebensweise und im Lauf der Zeit auch ihre Körper an die unterschiedlichen Bedingungen angepasst, die sie vorfanden.
Und sie hatten die älteren Hominiden-Formen verdrängt. Elegante, dünne Läufer wie Weit überdauerten noch in Ostasien, doch in Afrika klammerten sie sich nur noch an Nischen. In Europa waren sie ganz ausgestorben. Und was die letzten Pithecinen-Arten betraf, so waren sie schon vor langer Zeit verschwunden, aufgerieben zwischen den Schimpansen und den neuen Savannen-Leuten. Dennoch war das Verbreitungsgebiet der Hominiden noch klein. Es gab noch immer keine Leute in den kalten nördlichen Breiten, nicht in Australien und auch nicht auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Doch in der Alten Welt traten sie sich allmählich auf die Füße.
Und zugleich gab das Land immer weniger her.
Es hatte wieder ein Artensterben stattgefunden. Und diesmal hatten die Leute maßgeblich damit zu tun. Unter dem klimatischen Druck hatten viele der größeren, langsam sich vermehrenden Tier-Arten Zuflucht bei Wasserquellen gesucht. Dadurch wurden sie zu einer leichten Beute für die immer intelligenteren Hominiden-Jäger, die unter der Prämisse der Risikominimierung gezielt alte, schwache, aber auch vor allem junge Tiere auswählten, wodurch die Populationen rasch dezimiert wurden.
Die größten und einheitlichsten Spezies waren zuerst ausgestorben. In Afrika hatten von der weit verzweigten und uralten Elephantiden-Familie nur die echten Elefanten überlebt.
Und dann war da noch das Feuer.
Die Bändigung des Feuers, die erst wenige Generationen vor Kieselsteins Zeit gelungen war, hatte einen Höhepunkt in der Hominiden-Entwicklung dargestellt. Feuer bot viele Vorteile: Wärme, Licht und Schutz vor Raubtieren. Man vermochte mit ihm Holz zu härten und mit seiner Hitze viele pflanzliche und tierische Nahrung zu garen. Es gab aber noch keine großmaßstäblichen, organisierten Brandrodungen; das würde erst später einsetzen. Dennoch wirkte der tägliche Einsatz von Feuer sich schleichend und nachhaltig auf die Vegetation aus, weil die Pflanzen, die dem Feuer zu widerstehen vermochten, gegenüber den weniger robusten Sorten die Oberhand bekamen. Und obwohl Ackerbau in diesem Sinn noch weit in der Zukunft lag, hatten die Hominiden bereits mit der Auswahl von Pflanzen begonnen, die sie für ihre Zwecke bevorzugten – wie Kieselstein auch das Unkraut um den Maniokstrauch gejätet hatte.