Выбрать главу

Diese an sich geringfügigen Handlungen hatten, indem sie täglich über einen Zeitraum von Jahrhunderttausenden wiederholt wurden, gravierende Auswirkungen. Einst war die Landschaft von wandernden Elefanten geprägt worden: Weit und ihre Art waren bloße Statisten gewesen. Doch das war einmal. Diese Landschaft war von Menschen geprägt worden.

Trotzdem wirkte dieses kahle Land mit den feuerresistenten Bäumen und vereinzelten Pflanzenfressern jungfräulich, als ob es sich seit Urzeiten in diesem Zustand befunden hätte. Es lag schon so lang so da, dass niemand auf der Erde sich vorzustellen vermocht hätte, es hätte hier je anders ausgesehen.

Robbe hatte am Strand eine Spinne gefangen. Er lief durch den Sand und brachte sie grinsend zu Kieselstein. »Spinne Netz Spinne Fisch.« Kieselstein tippte Robbe auf den Kopf, sodass etwas von seiner ansteckenden Energie sich auf ihn übertrug. Er wünschte sich, er hätte mehr davon.

Robbe rannte zum Büschel Dünengras zurück, wo er die Spinne gefunden hatte. Das Netz bestand aus strahlförmigen kräftigen Strängen, über die die Spinne ein spiralförmiges klebriges Geflecht gespannt hatte. Sachte, ganz sachte hob der Junge, der einen kurzen Stock in der Hand hatte, die Spirale von den nicht haftenden Trägersträngen. Dann führte er den Stock von Speiche zu Speiche und rollte sie auf, sodass das klebrige Zeug sich wie Zuckerwatte am Ende des Stocks zusammenballte. Dann lief er zu einem Gezeitentümpel, der von flachen erodierten Felsen umrandet war. Er tunkte den Stock ins Wasser und ließ die klebrige Masse auf der Wasseroberfläche tanzen.

Ein kleiner Fisch kam herbei geschwommen und knabberte am verlockenden Köder. Und mit jedem Biss klebte er mit dem Maul stärker am Netz fest. Schließlich haftete er fest am Stock, und Robbe vermochte ihn leicht aus dem Wasser zu ziehen. Mit einem triumphierenden Grinsen steckte er sich den Fisch in den Mund. Dann rührte er mit dem Stock im Klebstoffbeutel der toten Spinne und tauchte ihn wieder ins Wasser.

Robbe, der in den Armen von Staub aus der überfallenen Siedlung gerettet worden war, war nun zwölf Jahre alt – sieben Jahre jünger als Kieselstein. Seine frühe Kindheit hatte sich wesentlich von der Kieselsteins unterschieden: Er war die ganze Zeit auf Wanderschaft gewesen. Jedoch schien Robbe nicht darunter gelitten zu haben. Vielleicht hatte er sich ans Wandern gewöhnt wie die Pflanzenfresser, die dem Lauf der Jahreszeiten folgten. Und er hatte das Meer erreicht. Er war zu schwer zum Schwimmen – wie sie alle –, doch wann immer Kieselstein ihn im seichten Wasser in Küstennähe sah, wurde er an einen verspielten Meeressäuger erinnert.

Auch elf Jahre nach dem traumatischen Angriff, bei dem sein Vater ums Leben gekommen war, hatte Kieselstein nichts von Robbes phantasievoller Verspieltheit.

Mit neunzehn war Kieselstein voll ausgewachsen und hatte eine so kompakte und kräftige Statur, wie sein Vater sie besessen hatte. Aber er war angeschlagen. Sein Körper trug alte Narben von wilden, verzweifelten Jagdepisoden. Beim Zusammenprall mit einem Wildpferd hatte er sich einen Rippenbruch zugezogen, der nie richtig verheilt war. Zeit seines Lebens würde er bei jedem Atemzug einen diffusen Schmerz verspüren. Und er trug Male von Wunden, die ihm in vielen Kämpfen von Leuten beigebracht worden waren.

Durch den Zwang, schnell erwachsen zu werden, hatte er sich nach innen gekehrt. Er verbarg seine Gedanken hinter einem zotteligen Bart, der von Jahr zu Jahr dichter und verfilzter wurde, und die Augen schienen unter dem dicken Brauenwulst zu verschwinden.

Und wie bei seinem Vater waren beide Arme von langen, zerklüfteten Narben gezeichnet.

Mit einem Seufzer widmete Kieselstein sich wieder der Überprüfung der Netze und Köder, die er im tiefen Wasser ausgelegt hatte. Dieser Kieselstrand wurde durch eine lange Landzunge vorm Meer geschützt, und ein Süßwasser-Bach tröpfelte über den Felsvorsprung auf den Strand. Das Meer war das Mittelmeer, und die Küste war die nördliche Küste Afrikas. Hinter ihm, im Süden, stieg das Land terrassenförmig an. An diesem Ort hatten Kieselsteins Leute eine neue Heimat gefunden, auf den grasigen Dünen oberhalb der Hochwasserlinie in einer Hütte, die sie aus Treibholz und jungen Baumstämmen errichtet hatten.

Soweit er wusste, hatte Robbe, der mit Spinnen und ihren Netzen spielte, eine eigene Technik des Fischens entwickelt. Doch an dieser tristen Küste hatten sie alle schnell lernen müssen, vom Meer zu leben. Anfangs hatten sie, der Gewohnheit als Antilopen-Jäger folgend, versucht, im flachen Wasser Fische und Delphine zu fangen, die ihnen aber leicht entwischten. Sie waren dem Verhungern und der Verzweiflung nahe gewesen.

Bis sie schließlich durch die Beobachtung der Spinnen, Vögel und Kleintiere auf die richtige Idee gekommen waren. Dieses Getier verfing sich nämlich hin und wieder in Büschen oder Röhricht mit klebrigen Blättern oder in den Ranken von Dickicht.

Allmählich hatten sie den Gebrauch von Netzen, Fallen und Schlingen gelernt, die sie aus Rinde und Lederstreifen flochten. Mit den ersten Versuchen hatten sie mehr Pech als Glück gehabt. Doch dann hatten sie die Fertigkeit entwickelt, natürliche Schnüre und Ranken zu verwenden und gelernt, Naturfasern zu flechten, auszubessern und zu verknüpfen. Und es funktionierte. Mit etwas Glück gingen ihnen Fische, Tintenfische und Schildkröten ins Netz. Je weiter sie ins Wasser hinausgingen, desto ertragreicher wurde der Fang.

Und es hatte auch funktionieren müssen, sonst wären sie verhungert.

Ironischerweise war das Land im Süden, jenseits dieser Küstenklippen, ein üppiger Flickenteppich aus Wald- und Grasland, aus Süß- und Salzwassertümpeln. Und es gab viele Tiere jenseits der Marschen und in den höheren Lagen: Rothirsche, Pferde und Nashörner und viele kleinere Körnerfresser. Manchmal kamen die Tiere auf der Suche nach Salz sogar an den Strand herunter.

Wenn das Land menschenleer gewesen wäre, dann hätte Kieselsteins Gruppe sich vielleicht im Paradies gewähnt. Aber das Land war nun einmal nicht leer, und das war das ganze Problem.

Am Horizont war eine Insel, auf die sein Blick sich nun heftete. Obwohl sie durch die große Entfernung von einem blauen Dunstschleier verhüllt wurde, vermochte er sogar von hier aus zu sehen, wie üppig die Insel war: Vegetation quoll aus jeder Felsspalte und zog sich fast bis zum Meer herunter. Und es waren Leute dort: dünne, große Leute, die wie huschende Schemen über den Strand und die Hügel rannten.

Dort wären er und seine Leute in Sicherheit, sagte er sich. Auf einer Insel wie dieser, auf einem eigenen Stück Land, könnten sie von Fremden unbehelligt für immer leben. Wenn er dorthin gelangen könnte, wäre er vielleicht imstande, diesen dürren Leuten ihr Land streitig zu machen.

Falls er dorthin gelangte. Aber die Leute vermochten nicht wie Delphine zu schwimmen, und sie vermochten auch nicht wie Insekten übers Wasser zu laufen. Es war ein Ding der Unmöglichkeit.

Sie saßen hier fest.

Zumal sie überhaupt nicht vorgehabt hatten, so weit zu gehen. Sie hatten ihre Wanderung nicht geplant. Sie waren einfach gezwungen gewesen, immer weiter zu wandern, während die Jahre vergangen waren.

Kieselsteins Art war von Natur aus sesshaft; in einer überfüllten Welt war diesen robusten Leuten die Wanderlust von Weit längst abhanden gekommen. Es war für sie eine große Belastung gewesen, dass es sie in diese unbekannten Landstriche verschlagen hatte: Für Kieselstein hatte der lange Marsch einen langsamen körperlichen Abbau bedeutet, und er wäre darüber fast verrückt geworden.