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Unterwegs waren die Kinder herangewachsen. Kieselstein selbst war zum Mann geworden, und ihre Zahl war langsam angestiegen, als immer mehr Flüchtlinge vor der einen oder anderen Katastrophe sich ihnen anschlossen. Kieselstein war Vater geworden. Er hatte sich mit Grün gepaart, der melancholischen Frau, die mit ihnen aus der alten Siedlung geflohen war. Bei der Durchquerung eines besonders heißen und trockenen Lands war das Kind aber gestorben.

Und sie hatten noch immer keinen Platz gefunden, an dem sie leben konnten. Denn die Welt war voller Leute.

Vorm Angriff hatte Kieselsteins Großfamilie aus zwölf Leuten bestanden. Sie waren autark, sie trieben keinen Handel und sie unternahmen auch kaum Reisen zu Zielen, die weiter als ein Tagesmarsch entfernt waren.

Dennoch waren sie sich immer der Gegenwart ähnlicher Gruppen bewusst gewesen, die sesshaft wie Bäume überall in der Landschaft verstreut waren.

Alles in allem waren es über vierzig Stämme gewesen, die den großen Clan ausmachten, dem Kieselsteins Leute angehörten – ungefähr tausend Leute. Manchmal fand auch ein Austausch statt, wenn Jugendliche aus einem ›Dorf‹ in einem anderen Paarungsgefährten suchten. Und gelegentlich kam es auch zu Konflikten, wenn zwei Parteien sich um Jagdgründe oder eine bestimmte Jagdbeute stritten. Solche Vorfälle wurden jedoch in der Regel durch einen Box- oder Ringkampf entschieden und schlimmstenfalls durch einen Speer ins Bein. Diese Verstümmelung hatte sich zu einer rituellen Bestrafung entwickelt.

Und jeder Einzelne aus diesem tausendköpfigen Verband, vom Neugeborenen bis zum runzligen fünfunddreißigjährigen Greis, war mit den charakteristischen roten oder schwarzen senkrechten Streifen verziert, die Kieselstein noch immer im Gesicht hatte.

Weit hätte gestaunt, wenn sie gesehen hätte, welche Blüten das zufällig von ihr benutzte Ocker nun trieb. Was als halbbewusste sexuelle List begonnen hatte, war über gewaltige Zeiträume eine Zelebrierung der Fruchtbarkeit geworden. Frauen und sogar ein paar Männer bemalten die Beine mit der charakteristischen Farbe der Fruchtbarkeit. Und im Lauf der Zeit hatten trübe Hirne und ungelenke Finger mit neuen Markierungen, neuen Symbolen experimentiert.

Inzwischen erfüllten diese krakeligen Symbole jedoch einen Zweck. Kieselsteins senkrechte Streifen waren eine Art Uniform, mit der sich sein Volk gegenüber anderen abgrenzte. Man musste nicht mehr jedes Mitglied der Gruppe persönlich kennen, was Capo in seiner Eigenschaft als Rottenführer noch hatte leisten müssen. Man musste sich keine Gesichter mehr merken. Alles, was man brauchte, war das Symbol.

Die Symbole einten die Clans. In gewisser Weise waren es die Symbole, für die sie kämpften. Diese unregelmäßigen Streifen und Körpermarkierungen waren der Beginn der Kunst – und sie waren zugleich der Ursprung der Nationen, der Ursprung des Krieges. Sie machten Konflikte möglich, die sogar den Tod derjenigen überdauerten, die sie begonnen hatten. Deshalb wurden die Hominiden durch die Schaffung neuer Symbole mit jeder Generation intelligenter.

Die ganze Landschaft wurde von solchen Clans bewohnt, die mehr oder weniger die gleiche Größe hatten. Sie waren alle sesshaft und blieben am Ort ihrer Geburt, wo schon ihre Eltern und Großeltern gelebt hatten. Sie vermochten sich untereinander nicht zu verständigen – wobei viele dieser Gemeinschaften durch die lange Isolation nicht einmal mehr imstande waren, sich zu vermischen. Und dort blieben sie, bis sie entweder von Naturkatastrophen wie Klimaänderungen oder Überschwemmungen vertrieben wurden – oder von anderen Leuten.

Das war natürlich auch der eigentliche Grund für das Entstehen der Clans: um Flüchtlinge fernzuhalten.

Es war eine harte Zeit für sie gewesen. Nach elf Jahren waren sie schließlich an diesen Ort gelangt, an diesen Strand und hatten halt machen müssen, denn hier war das Land zu Ende.

Plötzlich hörte Kieselstein einen Ruf vom Strand. »Hey, hey! Hilf, hilf!«

Kieselstein stand auf und schaute in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Er sah zwei bullige Gestalten auf die Hütte zuwanken. Das waren Hände und Hyäne, wobei der eine durch seine großen, starken Hände charakterisiert wurde und der andere durch die Angewohnheit, auf der Jagd wie eine Hyäne zu lachen. Diese beiden Männer hatten sich Kieselsteins Gruppe auf der Odyssee angeschlossen. Sie waren am Ende ihrer Kräfte. Hyäne lehnte sich schwer an die mächtige Schulter seines Kameraden, und sogar von hier aus hörte Kieselstein Hyänes pfeifenden Atem.

Staub kam aus der Hütte. Kieselsteins Mutter war nun in den späten Dreißigern. Durch die Entbehrungen des langen Marsches war sie hager und gebeugt, und ihr Haar war weiß und strähnig. Aber sie klammerte sich zäh ans Leben. Sie humpelte den Strand entlang zu Hyäne und Hände und rief: »Stechen, stechen!«

Hyäne brach auf dem Strand zusammen, und Kieselstein sah eine Steinaxt in seinem Rücken stecken. Sie halfen ihm wieder auf die Beine.

Kieselstein murmelte etwas vor sich hin und folgte seiner Mutter den Strand entlang.

Als sie Hyäne zur Hütte zurückgebracht hatten, dämmerte es schon.

Die Leute gingen in der Hütte umher und bereiteten sich auf die nächtlichen Aufgaben vor. Die Männer und Frauen gleichermaßen hatten mächtige Schultermuskeln, die unter den ledernen Umhängen sich wie Buckel abzeichneten. Sie hatten bratpfannengroße Hände mit breiten, spateiförmigen Fingerspitzen. Die dickwandigen Knochen hielten große Belastungen aus, und die Gelenke waren schwer und massig. Das waren massive Leute, als ob sie aus der Erde selbst geformt worden wären.

Sie mussten stark sein. In einer rauen Umgebung mussten sie ihr Lebtag hart arbeiten und mit schierer Kraft und emsigem Fleiß ausgleichen, was ihnen an Gehirnschmalz fehlte.

Nur wenige erreichten das Lebensende ohne den Schmerz alter Wunden und Probleme wie Knochenschwund. Es wurde auch kaum jemand älter als vierzig.

Hyänes Wunde war unbeachtlich. Nicht einmal der Umstand, dass er offensichtlich einen Schlag in den Rücken erhalten hatte, und zwar von einer rivalisierenden Gruppe Hominiden jenseits der Klippen, sorgte für Aufsehen. Das Leben war hart. Verletzungen waren an der Tagesordnung.

In der niedrigen, kleinen Hütte gab es kein Licht außer dem Feuer und Tageslicht, das durch Ritzen im Flechtwerk der Wände drang. Es gab auch keine ›Hausordnung‹. An der Rückwand der Hütte häuften sich Knochen, Muschelschalen und Essensreste. Werkzeuge, zum Teil zerbrochen oder erst halbfertig, waren achtlos weggeworfen worden, genauso wie Reste von Essen, Leder, Holz, Stein und Tierhäuten. Der Boden gab auch Aufschluss über die Essgewohnheiten der Gruppe: Bananen, Datteln, Wurzeln und Knollen – vor allem Maniok. Die Erwachsenen verrichteten ihr Geschäft draußen, um die Fliegen fernzuhalten. Aber die Kinder mussten erst noch stubenrein werden, sodass der Boden mit getrocknetem und platt getretenem Kinderkot übersät war.

Es gab nicht einmal feste Feuerstellen. Die Spuren alter Feuer waren als schwarze Kreise aus aufgeschütteten Kieselsteinen und Sand auf dem Hüttenboden und vor der Hütte zu sehen. Wenn der Wind drehte oder ein Teil der Hütte einstürzte, transportierten sie die Glut einfach zu einer anderen Stelle und bauten eine neue Feuerstelle.

Ein Mensch hätte sich in der Hütte den Kopf gestoßen und klaustrophobische Anwandlungen verspürt. Sie war ein infernalischer Saustall und von einem unerträglichen Gestank erfüllt. Für Kieselstein war das aber eine ganz normale Umgebung, wie er sie nie anders kennen gelernt hatte.

An diesem Abend wurden sogar zwei Feuer unterhalten. Hände kümmerte sich ums Feuer, das schon den ganzen Tag lang schwelte. Er streifte auf der Suche nach Brennholz um die Hütte und errichtete einen ordentlichen Scheiterhaufen aus Holz und Laub, um ein helles, heißes Feuer zu erzielen. Er hatte das Fleisch vom Kopf und den Gliedern eines Nashorn-Babys abgezogen und knackte die Knochen überm Feuer, um an das nahrhafte Mark zu gelangen.