Dennoch war diese Lebensweise eine Herausforderung. Um Handel zu treiben, musste man ein neues Verständnis der Welt entwickeln. Andere Leute waren nicht mehr nur passive Merkmale der Landschaft wie Felsen und Bäume. Nun musste man sich merken, wer wo lebte, wer was anzubieten hatte und wer freundlich – und ehrlich war. Damit standen die Sumpf-Leute unter dem ungeheuren Druck, sehr schnell viel intelligenter zu werden.
Die Form ihrer Köpfe änderte sich grundlegend. Der Schädel vergrößerte sich, um einem größeren Gehirn Platz zu bieten. Und die neuen Essgewohnheiten und Lebensweisen wirkten sich nachhaltig aufs Gesicht aus. Weil die Zähne nicht mehr dazu dienten, zähe, ungekochte Nahrung zu kauen oder Leder zu gerben, wurden sie schwächer verwurzelt. Weil die Kaumuskulatur sich zurückbildete, wich auch die obere Zahnreihe zurück. Der Unterkiefer sprang weiterhin vor, aber das Gesicht fiel nun senkrecht ab, sodass diese Hominiden auch den letzten Rest der affenartigen Anmutung verloren. Durch den schrumpfenden Kiefer und die nach vorn sich wölbende Stirn wurden neue Aufhängungspunkte für die Gesichtsmuskeln geschaffen, und die alten vorspringenden Brauenwülste verschwanden.
In dem Maß, wie sie an Intelligenz gewannen, vermochten sie auch auf Körperkraft zu verzichten. Ihr Körper verlor die Robustheit der unmittelbaren Vorfahren und nahm wieder so etwas wie die grazile Schlankheit von Weits Leuten an.
Kieselsteins erster Eindruck, dass Harpune kindlich anmutete, war durchaus begründet. Mit den Gesichtszügen und den dünnen Gliedmaßen wirkten diese neuen Leute im Vergleich zu den alten Stämmen wie Kinder, die im Wachstum gehemmt worden waren. Erneut hatten die Gene unter starkem Selektionsdruck Varianten ausgeprägt, die schnell umgesetzt werden konnten: Die Wachstumsgeschwindigkeit der verschiedenen Skelett-Partien zu ändern war eine relativ leichte Übung.
Diese Änderungen waren innerhalb weniger Jahrtausende abgeschlossen. Nach diesem Prozess war Harpune anatomisch mit den Menschen aus Joan Usebs Zeit praktisch identisch, auch was den Schädel und die Strukturierung des Gehirns betraf. Und es war der Handel gewesen, eine neue Art des Umgangs mit anderen Leuten, dem sie diese Fortschritte zu verdanken hatte.
Dennoch war Harpune noch kein Mensch.
Ihr Leben war durch kleinere Erfindungen und eine etwas verbesserte Organisationsstruktur charakterisiert. Ihre Art baute zum Beispiel Herde. Ihr Werkzeugsatz war jedoch kaum fortschrittlicher als der von Kieselstein und seinen Vorfahren. Ihre Sprache war das gleiche unstrukturierte Geplapper. Die Art und Weise, wie sie ihr Leben lebte, zum Beispiel die Sexualität, hatte sie weitgehend unverändert von den Altvorderen übernommen. Es gab noch immer starre Barrieren in ihrem Bewusstsein und zu wenig Verbindungen in der neuronalen Vernetzung des Gehirns. Ein Mensch aus Joan Usebs Zeit wäre wegen der Monotonie, der immergleichen Routinen und Rituale, des Fehlens von Kunst und Sprache – also bei dem total öden und geistig armen Leben – schnell verrückt geworden.
Und menschliche Gestalt hin oder her, diese Leute waren nicht übermäßig erfolgreich gewesen. Obwohl sie sich vom Ursprung im Sumpf des Südwestens über Afrika ausgebreitet hatten, waren sie keine Avantgarde gewesen. Es war schwer, Handel zu treiben, wenn es keine Gleichartigen gab, mit denen man zu tauschen vermochte. Das Überleben der neuen Nomaden stand nach wie vor auf der Kippe, und die meisten Gruppen auf dem Kontinent starben aus.
Den Kindern von Harpune gelang es jedoch, sich über diese kritische Phase hinwegzuretten, und ihre Gene trugen fortan eine ›Flaschenhals‹-Signatur. Die vielen Milliarden Menschen, die künftig aus dieser nicht viel versprechenden Saat hervorgingen, waren genetisch praktisch identisch. Alle Menschen waren Verwandte.
Kieselstein Beziehung zu Harpune erreichte auf einer Jagd den Höhepunkt.
Eines Tages versteckte Kieselstein sich mit dem Wind im Rücken in einem Unterstand und spähte eine Herde friedlich grasender Riesenpferde aus. Der Unterstand bestand aus ein paar Schösslingen, die locker verwoben und mit Palmwedeln und Gras bedeckt waren. Hier lag Kieselstein also mit dem Stoßspeer neben sich und taxierte das große, lahme Tier, das ihr Ziel war.
Und Harpune lag neben ihm. Er war angespannt, wurde von Adrenalin durchflutet, und die Hitze des Tages und der Schweißgeruch des Pferds benebelten ihm die Sinne.
Plötzlich spürte er ihre Finger im Gesicht.
Er drehte sich um. Ihre Haut schien in dem grünen Dämmerlicht zu glühen. Sie strich über die senkrechten ockerfarbenen Streifen, die er noch immer trug. Und dann wanderten ihre schlanken Finger zu seinem Arm und den lang verheilten Schnittwunden, die er sich selbst zugefügt hatte. Bei jeder Berührung von ihr erschauerte er, als ob ihre Finger aus Eis oder Feuer wären.
Dann fuhr er ihr mit den Fingern über den Arm. Seine Faust schloss sich leicht um ihren Unterarm, wie um das Bein eines Vogels. Er spürte, dass er den Knochen wie ein Streichholz zu brechen vermocht hätte. Plötzlich fühlte er sich wieder in den Tag zurückversetzt, als er ihr am Strand begegnet war. Er bekam einen trockenen Mund und konnte nur mit Mühe schlucken.
Er verstand seine Lust nicht: die Lust, die nie geschwunden war. Er dachte an die tollen Werkzeuge, die sie gefertigt hatte, ihre langen, geschmeidigen Schritte, die Nahrung, die sie seinen Leuten gebracht hatte – und diese Harpune mit der feinen Spitze, die unvorstellbar für ihn gewesen war, bis er sie an jenem Tag zum ersten Mal gesehen hatte. Da war etwas an ihr, das sein Körper begehrte; die Sehnsucht war schier unerträglich.
Er rollte sich auf den Rücken. Im grünen Dämmerlicht des Pflanzen-Unterstands setzte sie sich auf ihn und lächelte.
IV
Jeder Brocken Feuerstein war ein Miniatur-Friedhof. In einem längst verschwundenen Meer hatten die Kadaver von Krustentieren ein Sediment gebildet, und winzige glasige Nadeln, die einst das Skelett von Schwämmen gewesen waren, wurden zu Feuerstein, der in den sich verdickenden Kalk-Flözen eingeschlossen war.
Kieselstein hatte das Gefühl von Feuerstein immer schon geliebt. Er drehte den glattflächigen, spröden Stein in den Händen und ertastete seine Struktur. Feuerstein-Steinmetze mussten jede noch so subtile Eigenschaft des Steins kennen. Je länger ein Feuerstein den Elementen ausgesetzt war, desto wahrscheinlicher war es, dass er Risse hatte, die durch Frost oder die Wirkung von Fluss- und Meeresströmungen entstanden waren. Dieser Feuerstein wies jedoch keine derartigen Spuren auf. Er war makellos. Er war erst vor kurzem aus seiner Kalkmatrix befreit worden, nachdem eine Klippe eingestürzt war. In diesem Gebiet, im alten Revier der Leute, fand man keinen solchen Feuerstein. Kieselstein hatte guten Feuerstein in den langen Jahren am Strand vermisst, ehe Harpune in sein Leben getreten war.
Dieser Tage war er nie zufriedener, als wenn er Stein bearbeitete – das heißt, er war nie weniger unzufrieden.
Sieben Jahre waren seit der ersten Begegnung mit Harpune verstrichen. Mit sechsundzwanzig baute sein Körper bereits ab. Er war durch die vielen Entbehrungen und Härten eines Lebens gezeichnet, das noch immer sehr hart war, obwohl seine Leute nun mit den Neuankömmlingen zusammenarbeiteten.
Er hatte sich auf Harpune eingelassen, und er hatte sich auch auf das Neue und die Veränderungen eingelassen, die sie bedeutete, aber diese Veränderungen waren trotzdem schwer zu bewältigen. Kieselsteins Bewusstsein war höchst unflexibel. Und je älter er wurde, desto mehr genoss er diese Momente allein mit dem Stein, wenn er sich in einen Winkel seines geräumigen Bewusstseins zurückziehen konnte.