Dann wurde jedes Kind von einem Mitglied des Jugenddorfes in Empfang genommen.
»Bist du Karen Clement?«
»Ja.«
»Ich bin Yona«, sagte eine ägyptische Jüdin, die etwas älter als Karen war. »Wir beide wohnen zusammen. Komm, ich will dir unser Zimmer zeigen. Es wird dir hier bei uns gefallen.«
Karen rief Dov zu, daß sie sich später treffen wollten, und ging dann mit Yona, an den Verwaltungsgebäuden und den Schulräumen vorbei, zu dem Teil der Siedlung, wo kleine Bungalows zwischen Büschen und Sträuchern standen. »Wir haben es gut«, sagte Yona. »Wir bekommen diese Einzelhäuschen, weil wir zu den älteren Jahrgängen gehören.«
Karen blieb einen Augenblick verwundert vor dem Bungalow stehen. Dann ging sie mit Yona hinein. Die Einrichtung war sehr einfach, doch für Karen war es das schönste Zimmer, das sie je im Leben gesehen hatte. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl — und das alles für sie, für sie ganz allein.
Es wurde Abend, ehe Karen einen freien Augenblick hatte. Nach dem Abendessen sollte für die Neuen im Freilufttheater eine Begrüßungsaufführung stattfinden.
Karen traf Dov auf der Grünfläche, nicht weit von der Dafna-Statue. Seit vielen Wochen hätte sie zum erstenmal wieder gern getanzt. Die Luft war so frisch, und das ganze Jugenddorf war einfach wunderbar! Karen trug olivfarbene lange Hosen, einen hochgeschlossenen Farmerkittel und neue Sandalen. »Oh, Dov!« rief sie. »Das ist der herrlichste Tag meines ganzen Lebens! Yona ist ein reizendes Mädchen. Sie hat mir gesagt, Dr. Liebermann sei der netteste Mensch, den man sich überhaupt vorstellen kann.« Sie ließ sich ins Gras fallen, sah nach oben in den Himmel und seufzte. Dov stand neben ihr und sagte kein Wort. Sie setzte sich und zog ihn bei der Hand.
»Laß das«, sagte er.
Doch Karen ließ nicht locker, und Dov setzte sich schließlich neben sie. Er wurde verlegen, als sie seine Hand drückte und ihren Kopf auf seine Schulter legte. »Freu dich doch auch, Dov«, sagte sie. »Bitte sei froh und glücklich.«
Er zuckte die Schulter und rückte von ihr weg.
»Bitte sei glücklich.«
»Wen geht das etwas an?«
»Mich«, sagte Karen. »Weil du mich etwas angehst.«
»Kümmere dich lieber um dich selber.«
»Das tue ich außerdem.« Sie kniete vor ihm und ergriff seine Schultern. »Hast du dein Zimmer gesehen und dein Bett? Wie lange ist es her, seit du in einem solchen Zimmer gewohnt hast?« Dov wurde rot und sah zu Boden. »Denk doch nur, Dov!« sagte Karen. »Kein Flüchtlingslager mehr, kein Internierungslager mit Stacheldraht, nie mehr auf ein illegales Schiff. Wir sind zu Hause, Dov, und es ist sogar noch schöner, als ich es mir ausgemalt hatte.« Dov stand langsam auf und drehte ihr den Rücken zu. »Für dich mag das hier gut und richtig sein. Aber ich habe andere Pläne.« »Denk bitte nicht mehr daran«, sagte sie.
Das Orchester begann zu spielen. »Es wird Zeit, daß wir zum Theater gehen«, sagte Karen.
Als Ari und Kitty Tel Aviv wieder verlassen hatten und an dem riesigen britischen Lager bei Sarafand vorbeifuhren, bekam Kitty erneut die Spannung zu spüren, die in Palästina in der Luft lag. Auf dem Wege nach Jerusalem durch die rein arabische Stadt Ramie bemerkte Kitty, wie die Araber sie mit feindlichen Blicken musterten. Ari dagegen schien weder die Araber noch Kittys Gegenwart wahrzunehmen. Er hatte den ganzen Tag kaum drei Worte mit ihr gesprochen.
Kurz hinter Ramie begann Bab el Wad, eine Straße, die in Windungen hinauf in die Berge von Judäa führt. Auf den Hängen der Schluchten rechts und links der Straße wuchsen junge Waldungen, die von den Juden angepflanzt worden waren. Terrassen aus alter Zeit ragten aus dem kahlen Erdreich heraus, wie die Rippen eines verhungerten Hundes. Einstmals hatten hier in den Bergen Hunderttausende von Menschen gelebt und auf diesen Terrassen ihre Nahrung gefunden. Heute war der Boden völlig verwittert und unfruchtbar. Auf den Gipfeln der Berge lagen, eng zusammengedrängt, die weißen Hütten der Araberdörfer.
Höher und höher fuhren sie hinauf, und ihre Spannung wurde immer größer. Jetzt erschienen in der Ferne über dem Horizont als undeutlicher Umriß die Zinnen von Jerusalem, und Kitty verspürte eine sonderbare Erregung.
Sie kamen in die von den Juden erbaute Neustadt und fuhren durch die Jaffa-Straße auf die alte Stadtmauer zu. Vor dem Jaffa-Tor bog Ari in die King-David-Avenue ein und hielt wenige Augenblicke später vor dem großen Gebäude, dem berühmten King-David-Hotel. Kitty stieg aus und schnappte nach Luft, als sie sah, daß der rechte Flügel des Hotels zerstört war.
»Dort befand sich früher das britische Hauptquartier«, sagte Ari. »Doch die Makkabäer haben alles gründlich verändert.«
Kitty kam als erste zum Essen herunter. Sie nahm auf der Terrasse hinter dem Hotel Platz, von der aus man über ein kleines Tal hinweg die alte Stadtmauer erblickte.
Als Ari etwas später auf die Terrasse herauskam, blieb er wie angewurzelt stehen. Kitty sah wunderbar aus. Er hatte sie noch nie so gesehen. Sie hatte ein sehr elegantes Cocktail-Kleid an, dazu einen Hut mit breitem Rand und weiße Handschuhe. Er fühlte sich plötzlich sehr weit von ihr entfernt. Sie sah ganz so aus wie alle die reizvollen, gutangezogenen Frauen in Rom, Paris und Berlin, die zu einer Welt gehörten, die ihm fremd und auch nicht ganz verständlich war. Zwischen den beiden Frauen Kitty und Dafna war ein himmelweiter Unterschied. Doch sie war schön, wunderschön.
Er kam an ihren Tisch und setzte sich. »Ich habe eben mit Harriet Salzmann telefoniert«, sagte er. »Wir sollen gleich nach dem Essen zu ihr kommen.«
»Danke«, sagte Kitty. »Ich finde es sehr aufregend, in Jerusalem zu sein.«
»Ja, diese Stadt hat eine geheimnisvolle Anziehungskraft. Jeder, der zum erstenmal hierherkommt, ist fasziniert. Denken Sie zum Beispiel an David ben Ami. Ihn läßt Jerusalem überhaupt nicht mehr los. Er hat übrigens die Absicht, mit Ihnen morgen durch die Altstadt zu gehen, wenn der Sabbat beginnt.«
»Ich finde es reizend von ihm, daß er sich um mich kümmern will.«
Ari sah sie aufmerksam an. Aus der Nähe erschien sie ihm noch schöner als vorhin. Er sah beiseite, winkte einen Kellner heran, bestellte und starrte dann vor sich hin. Kitty hatte allmählich das Gefühl, daß sich Ari eine Verpflichtung aufgeladen hatte, die er möglichst bald hinter sich bringen wollte. Zehn Minuten lang sagte keiner von beiden ein Wort. Kitty stocherte in ihrem Salat.
»Bin ich Ihnen sehr lästig?« fragte sie schließlich.
»Nein«, sagte er. »Wie kommen Sie denn auf diese Idee?«
»Seit Sie gestern abend von Ihrer Verabredung zurückgekommen sind, haben Sie sich benommen, als ob ich gar nicht existieren würde.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Kitty«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Ich glaube, ich bin heute ein sehr schlechter Gesellschafter gewesen.«
»Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«
»Eine ganze Menge ist nicht in Ordnung — aber das hat nichts mit Ihnen oder mit mir und meinem schlechten Benehmen zu tun. Und jetzt möchte ich Ihnen gern ein bißchen über Harriet Salzmann erzählen. Sie ist Amerikanerin. Sie muß inzwischen weit über Achtzig sein. Wenn wir hier beim Jischuw Leute heiligsprächen, dann wäre sie unsere erste Heilige. Sehen Sie den Berg dort jenseits der Altstadt?«
»Da drüben?«
»Das ist der Skopusberg. Die Gebäude, die Sie da oben sehen, sind das modernste medizinische Zentrum im Nahen Osten. Das Geld dafür stammt von der Zionistischen Frauenbewegung in Amerika, die Harriet nach dem ersten Weltkrieg organisiert hat. Die meisten Krankenhäuser in Palästina sind von der Hadassa — so heißt die Organisation, die Harriet ins Leben gerufen hat — finanziert und errichtet worden.«