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Der    erste und wichtigste Lehrsatz,    den    die    Erzieher ihren Schützlingen einzuprägen vermochten,    war, daß    ihr Leben einen

Sinn hatte, daß es auf ein Ziel gerichtet war.

Gan    Dafna hatte einen internationalen    Lehrkörper, dessen

Angehörige aus zweiundzwanzig verschiedenen Ländern kamen. Kitty war die einzige Nichtjüdin und die einzige Amerikanerin, und das hatte zur Folge, daß man ihr ebenso zurückhaltend wie freundlich begegnete.

Ihre    ursprünglichen Befürchtungen,    daß    sie    auf feindliche Ablehnung stoßen werde, erwiesen sich als unbegründet. Die geistig aufgeschlossene Atmosphäre, die in Gan Dafna herrschte, machte diesen Ort mehr zu einer Universität als zu einem Waisenheim. Kitty wurde als Mitglied eines Teams willkommen geheißen, dessen oberstes Anliegen das Wohl der Kinder war. Mit vielen ihrer Kollegen freundete sie sich sehr an. Sie fühlte sich im Umgang mit ihnen wohl. Auch der Umstand, daß es sich um ein jüdisches Jugenddorf handelte, war unwesentlicher als sie gedacht hatte. Das Judentum beruhte in Gan Dafna mehr auf dem Nationalbewußtsein als auf religiöser Basis. Die rituellen Formen wurden hier nicht sehr beachtet; es gab nicht einmal eine Synagoge.

Obwohl sich die Berichte über blutige Ausschreitungen in allen Teilen Palästinas häuften, gelang es, Furcht und Sorge von Gan Dafna fernzuhalten. Doch auch hier war die Umwelt nicht frei von den sichtbaren Zeichen der Gefahr. Ein Stück oberhalb von Gan Dafna lag die Grenze. Beständig hatte man Fort Esther vor Augen. Die Schützengräben, die Unterstände, die Waffen und die militärische Ausbildung waren nicht zu übersehen.

Das Gebäude der medizinischen Abteilung lag in dem Verwaltungsbezirk am Rande der Grünfläche. Es umfaßte eine Abteilung für die ambulante Behandlung, eine gut eingerichtete Krankenstation mit zwanzig Betten und einen Operationsraum. Der Arzt, der gleichzeitig auch Yad El betreute, kam täglich. Außerdem gab es einen Zahnarzt, vier Lehrschwestern, die unter Kitty arbeiteten, und einen Psychotherapeuten, der ausschließlich für Gan Dafna da war.

Kitty führte ihr ambulantes Revier und ihre Krankenstation, nachdem sie den ganzen Betrieb völlig neu organisiert hatte, mit geradezu maschineller Präzision. Sie setzte genaue Zeiten fest für die Revierstunden, für die Krankenvisiten auf der Station, und für Massage, Bestrahlung und dergleichen. Sie verschaffte sich in ihrer Stellung einen derartigen Respekt, daß man in Gan Dafna erstaunt die Köpfe zusammensteckte. Die ihr unterstellten Schwestern hielt sie unauffällig in einem sehr genauen beruflichen Abstand, und sie lehnte für ihren Arbeitsbereich auch die Formlosigkeit ab, die sonst überall in Gan Dafna üblich war. Sie verhinderte die plumpe Vertraulichkeit, zu der die meisten Mitglieder des Stabes die Jungen und Mädchen ermutigten. Das alles war für Gan Dafna neu und ungewöhnlich. Man mußte ihr, ob man wollte oder nicht, Bewunderung zollen, denn die medizinische Sektion war am besten organisiert und die leistungsfähigste Abteilung des ganzen Jugenddorfes. In ihrem Bestreben, freie Menschen heranzuziehen, hatten die Juden allzuoft die Disziplin vernachlässigt, die Kitty Fremont gewohnt war. Man verübelte ihr die energische Art, mit der sie ihre Abteilung führte, jedoch durchaus nicht. Wenn sie ihre Dienstkleidung auszog, gab es in Gan Dafna niemanden, dessen Gesellschaft so begehrt war wie die ihre.

War sie als Abteilungsleiterin streng und energisch, so war sie ganz das Gegenteil davon, sobald es sich um »ihre« Kinder handelte. Die fünfzig Kinder von der Exodus blieben auch in Gan Dafna weiterhin die »Exodus-Kinder«, und Kitty Fremont gehörte zu ihnen. Sie war die »Exodus-Mutter«. So war es ganz natürlich, daß sie persönlichen Anteil an einigen dieser Jugendlichen nahm, die ernstlich seelisch gestört waren. Sie erklärte sich freiwillig bereit, dem Psychotherapeuten bei seiner Arbeit zu assistieren. Diesen seelisch gestörten Kindern gegenüber ging Kitty aus ihrer Reserviertheit völlig heraus; sie gab ihnen alle Liebe und Wärme, die sie zu geben vermochte. Die Tatsache, daß die Kinder in Palästina und in Gan Dafna waren, hatte eine große Heilwirkung; doch die Schrecken der Vergangenheit verursachten noch immer Angstträume, Unsicherheit und Feindseligkeit, deren Behandlung Geduld, Erfahrung und Liebe erforderte.

Einmal wöchentlich begab sich Kitty mit dem Arzt nach Abu Yesha, um dort eine morgendliche Krankenstunde für die Araber abzuhalten. Wie rührend waren manchmal doch diese schmutzigen kleinen Araberkinder im Gegensatz zu den robusten Jugendlichen von Gan Dafna! Wie würdelos war ihr Leben, verglichen mit dem Geist des Jugend-Aliyah-Dorfes! Bei diesen arabischen Kindern gab es weder Lachen noch Gesang, weder Spiele noch sichtbaren Lebenszweck. Man lebte einfach in den Tag hinein; neue Generation einer sich ewig in einem endlosen Kreise bewegenden Karawane in der Wüste. Der Magen drehte sich ihr jedesmal um, wenn sie eine der nur aus einem einzigen Raum bestehenden Hütten betrat, die ihre Bewohner mit Hühnern, Hunden und Eseln zu teilen hatten und in denen jeweils acht bis zehn Menschen auf dem Erdboden schliefen. Und doch konnte Kitty diese Menschen nicht verabscheuen. Sie waren gutmütig und herzlich, weit über ihre geistigen Grenzen hinaus. Auch sie sehnten sich nach einer besseren Zukunft. Sie befreundete sich mit Taha, dem jungen Muktar, der an jeder ihrer Ambulanzstunden teilnahm. Oft hatte Kitty den Eindruck, als wollte Taha mit ihr auch noch über andere Probleme als das Gesundheitswesen seines Dorfes sprechen, und sie spürte geradezu, wie es ihn zu einer Aussprache drängte. Aber Taha war Araber; einer Frau konnte man sich nicht in allem anvertrauen, und deshalb verriet er ihr niemals seine wahren Sorgen.

Die Tage vergingen und der Spätwinter 1947 kam.

Mit der Zeit waren Karen und Kitty in Gan Dafna unzertrennlich geworden. Karen, die auch an den finstersten Orten nie ganz unglücklich gewesen war, blühte in Gan Dafna förmlich auf. Sie war der Liebling des ganzen Dorfes. Kittys verständnisvolle Nähe wurde für sie besonders wichtig, weil sie gerade das schwierige Stadium der Pubertät durchmachte. Kitty sah sehr deutlich, daß jeder Tag, den Karen in Gan Dafna verbrachte, dazu angetan war, sie weiter von Amerika zu entfernen, und sie hielt ganz bewußt den Gedanken an Amerika in ihr lebendig, während die Nachforschungen nach Karens Vater weitergingen.

Dov Landau war ein Problem. Kitty war mehrfach kurz davor, einzugreifen und sich trennend zwischen ihn und Karen zu stellen, als sie merkte, daß sich die Beziehung zu vertiefen schien; doch sie hielt sich zurück, weil ihr klar war, daß sich die beiden dadurch möglicherweise nur noch enger aneinandergeschlossen hätten. Es war ihr unverständlich, daß Karen so an dem Jungen hing, da Dov diese Zuneigung durch nichts erwiderte. Er war mürrisch und verschlossen. Er redete zwar ein bißchen mehr als früher, aber wenn man irgend etwas von ihm wollte, so war Karen noch immer die einzige, die an ihn herankonnte.

Dov war wie besessen von dem Wunsch, Wissen zu erwerben. Er hatte so gut wie überhaupt keine Schulausbildung gehabt, und jetzt schien er das Versäumte mit leidenschaftlichem Hunger nachholen zu wollen. Er wurde sowohl von der militärischen wie von der landwirtschaftlichen Ausbildung dispensiert. Er arbeitete, las und lernte Tag und Nacht. Seiner Begabung gemäß konzentrierte er sich auf anatomische, architektonische und technische Zeichnungen. Gelegentlich entstand auch, sozusagen als Sicherheitsventil, eine freie Zeichnung, die sein Inneres zum Ausdruck brachte. Zuweilen war er nahe daran, aus seiner Einsamkeit auszubrechen und an der Geselligkeit von Gan Dafna teilzunehmen, doch jedesmal zog er sich wieder in sich selbst zurück. Er blieb für sich, nahm an nichts teil und sprach, außer mit Karen, außerhalb des Unterrichts mit keinem Menschen.

Kitty besprach das Problem mit Dr. Liebermann. Liebermann hatte viele Jungen und Mädchen wie Dov Landau erlebt. Es war ihm aufgefallen, daß Dov sehr intelligent war und Zeichen großer Begabung erkennen ließ. Er war jedoch der Meinung, daß jeder Versuch, ihn mit Gewalt aus seiner Einsamkeit herauszuholen, genau das Gegenteil bewirken werde; solange der Junge harmlos blieb und sich sein Zustand nicht verschlimmerte, sollte man ihn in Ruhe lassen.