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Der Arzt saß Karen und Kitty gegenüber. »Dein Vater ist von der Gestapo gefoltert worden, Karen«, sagte er. »Zu Anfang des Krieges wollten ihn die Nazis dazu bringen, für sie zu arbeiten, und sie haben ihm auf alle nur denkbare Weise zugesetzt. Doch schließlich mußten sie es aufgeben. Er konnte für die Nazis einfach nicht arbeiten, selbst auf die Gefahr hin, daß er durch seine Weigerung das Leben deiner Mutter und deiner Brüder gefährdete.«

»Es fällt mir jetzt wieder ein«, sagte Karen. »Ich erinnere mich, wie ich in Dänemark war und plötzlich keine Briefe mehr aus Deutschland kamen, und wie ich nicht wagte, Aage Hansen danach zu fragen, was mit meiner Familie geschehen sei.«

»Dein Vater kam nach Theresienstadt, und deine Mutter und deine Brüder —.«

»Ja, ich weiß.«

»Man brachte deinen Vater nach Theresienstadt, weil man hoffte, daß er seine Meinung ändern würde. Was mit deiner Mutter und mit deinen Brüdern geschehen war, erfuhr dein Vater erst, als der Krieg zu Ende war. Er fühlte sich schuldig, weil er zu lange gezögert hatte, aus Deutschland wegzugehen, und dadurch deine Mutter und deine Brüder ins Verderben gebracht hatte. Als er nach den langen Jahren der Qual erfuhr, welches Schicksal seine Angehörigen erlitten hatten, verlor er den Verstand.«

»Aber er wird doch wieder gesund werden?« sagte Karen.

Der Arzt sah Kitty an. »Er leidet an einer schweren chronischen Depression.«

»Und was bedeutet das?« fragte Karen.

»Karen, leider wird dein Vater nicht wieder gesund werden«, sagte der Arzt.

»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Karen. »Ich möchte ihn sehen.« »Erinnerst du dich überhaupt noch an ihn?« fragte der Arzt.

»Nur ganz wenig.«

»Ich glaube, es wäre besser, wenn du dir die Erinnerung, die du an ihn noch hast, bewahrst, als wenn du ihn so siehst, wie er jetzt ist.« »Sie muß ihn sehen, Doktor«, sagte Kitty, »ganz gleich, wie schwer es für sie ist. Aber sie muß Gewißheit haben.«

Der Arzt führte sie einen Korridor entlang und blieb vor einer Tür stehen. Eine Krankenschwester schloß auf. Der Arzt öffnete die Tür und blieb am Eingang stehen.

Karen betrat den Raum, der einer Zelle ähnlich sah. Ein Stuhl, ein Regal, ein Bett. Sie sah sich einen Augenblick suchend um — und erstarrte. In einer Ecke auf dem Fußboden saß ein Mann. Er war barfuß und ungekämmt. Er lehnte mit dem Rücken gegen die Wand, hatte die Arme um die Knie geschlungen und starrte mit leerem Blick auf die gegenüberliegende Wand.

Karen ging einen Schritt auf ihn zu. Sein Kinn war mit Stoppeln bedeckt und sein Gesicht voller Narben. Karens hämmernder Herzschlag wurde plötzlich ruhig. Das ist alles ein Irrtum, dachte sie — dieser Mann da ist ein Fremder — das ist doch nicht mein Vater. Es kann gar nicht mein Vater sein. Es ist ein Irrtum, ein Irrtum! Sie hätte sich am liebsten umgedreht und laut gerufen: Sehen Sie, Sie haben sich geirrt! Das ist gar nicht Johann Clement, es ist nicht mein Vater! Mein Vater ist irgendwo anders, er lebt und sucht nach mir. Karen stand vor dem Mann, der am Boden hockte, und sah ihn an, um sich Gewißheit zu verschaffen. Sie starrte in die leeren, ausdruckslosen Augen. Es war so lange her — lag so weit zurück, daß sie sich kaum noch daran erinnern konnte. Doch dieser Mann da, das war nicht der, dem sie in ihren Träumen begegnet war.

Da war ein Kamin, und es roch nach Pfeifengeruch. Und da war auch ein Hund. Der hieß Maximilian. Im Zimmer nebenan schrie ein Baby. »Miriam, bring doch mal das Baby zur Ruhe. Ich lese hier meiner Tochter eine Geschichte vor und möchte dabei nicht gestört werden.«

Karen Hansen-Clement ließ sich vor dem menschlichen Wrack, das am Boden hockte, langsam auf die Knie nieder.

In Omas Haus in Bonn roch es immer nach frischgebackenen Plätzchen. Die ganze Woche über backte sie Plätzchen, damit sie genügend davon hatte, wenn die Familie am Sonntag zusammenkam. Der Mann, der auf dem Fußboden hockte, starrte weiter die gegenüberliegende Wand an, als sei er allein.

Sieh doch nur, wie ulkig die Äffchen im Kölner Zoo sind! Köln hat den schönsten Zoo, den es auf der ganzen Welt gibt. Und wann ist wieder Karneval?

Karen musterte den Mann, der da saß, von den nackten Füßen bis zu seiner narbenbedeckten Stirn. Sie entdeckte nichts — nicht das geringste, das sie an ihren Vater erinnerte —.

»Jude! Jude! Jude!« schrie der Mob hinter ihr her, während sie mit blutüberströmtem Gesicht nach Hause rannte. »Aber, aber, Karen, nun wein doch nicht. Dein Pappi ist ja da, und er wird dafür sorgen, daß dir niemand etwas tut.«

Karen streckte die Hand aus und berührte die Wange des Mannes. »Pappi?« sagte sie. Der Mann rührte sich nicht und reagierte auch sonst nicht.

Da war ein Zug, und viele Kinder, und es hieß, sie würden nach Dänemark fahren, aber Karen war müde. »Auf Wiedersehen, Pappi«, hatte sie gesagt. »Hier, nimm du meine Puppe. Sie wird auf dich aufpassen.« Sie stand hinten auf der Plattform des letzten Wagens und sah zu ihrem Pappi hin, der auf dem Bahnsteig stand und kleiner und kleiner wurde.

»Pappi! Pappi!« rief Karen. »Ich bin's, Pappi! Karen, dein kleines Mädchen! Ich bin inzwischen ein großes Mädchen geworden, Pappi. Kennst du mich denn gar nicht mehr?«

Der Arzt hielt Kitty fest, die an der Tür stand und am ganzen Leib zitterte. »Bitte«, rief Kitty, »lassen Sie mich ihr helfen.«

»Lassen Sie das Mädchen damit fertig werden«, sagte der Arzt. Und in Karen stieg die Erinnerung auf. »Ja!« rief sie. »Ja, das ist mein Vater! Es ist wirklich mein Vater!«

»Vater!« rief sie und schlang ihre Arme um ihn. »Bitte, sprich mit mir. Sag doch etwas zu mir. Ich bitte dich — bitte dich!«

Der Mann, der früher einmal Johann Clement gewesen war, zwinkerte mit den Augen. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck neugieriger Überraschung, als er wahrnahm, daß sich jemand an ihn klammerte. Einen Augenblick lang blieb dieser überraschte Ausdruck auf seinem Gesicht, als versuchte er, die Finsternis seiner geistigen Umnachtung zu durchdringen — doch dann sank er wieder in den Ausdruck der Leblosigkeit zurück.

»Vater!« rief Karen. »Vater! Vater!«

Und in dem leeren Raum und durch den langen Korridor ertönte das Echo ihrer Stimme: Vater!

Die starken Arme des Arztes lösten Karen aus der Umklammerung, und mit sanfter Gewalt wurde sie hinausgeführt. Die Tür wurde zugemacht und abgeschlossen, und Johann Clement war aus Karens Leben verschwunden, für immer.

Karen schluchzte verzweifelt und barg sich in Kittys Armen. »Er hat mich nicht einmal erkannt! O mein Gott — Gott — warum hat er mich nicht erkannt? Sag es mir, Gott — sag es mir!«

»Sei ruhig, Kleines, es wird alles wieder gut. Kitty ist ja da.«

»Bleib bei mir, Kitty, laß mich nie mehr allein!«

»Nein, mein Kleines — ich bleibe bei dir — Kitty wird immer bei dir bleiben.«

IX.

Die Kunde von Karens Vater war nach Gan Dafna gedrungen, noch ehe sie und Kitty dorthin zurückgekehrt waren. Auf Dov Landau hatte die Nachricht eine erschütternde Wirkung. Zum erstenmal seit jenem Tage, da ihn sein Bruder Mundek in dem Bunker unter dem Warschauer Ghetto in seinen Armen gehalten hatte, war es Dov Landau möglich, für einen anderen als sich selbst Mitleid zu empfinden. Seine Sorge um Karen Clement war der Lichtstrahl, der endlich seine finstere Welt erhellte.

Sie war der einzige Mensch, zu dem er Vertrauen besaß, für den er Zuneigung empfand. Warum mußte ausgerechnet ihr dies geschehen? Wie oft hatte ihm Karen in dem Lager auf Zypern gesagt, daß sie fest davon überzeugt war, ihren Vater wiederzufinden. Der schwere Schlag, der Karen jetzt getroffen hatte, bereitete auch ihm tiefen Schmerz.

Wen hatte sie nun noch auf dieser Welt? Ihn und Mrs. Fremont. Und was bedeutete er für sie? Er war eine Last — ein Nichts. Zuweilen wünschte er, Mrs. Fremont hassen zu können; doch das konnte er nicht, weil er wußte, daß es für Karen gut war, Mrs. Fremont zu haben. Da Karens Vater jetzt nicht mehr im Wege stand, würde Mrs. Fremont sie vielleicht nach Amerika mitnehmen. Doch er stand noch im Wege. Er wußte genau, daß Karen ihn nicht allein lassen würde. Deshalb gab es für ihn nur einen Weg.