»Ja«, sagte Karen, »ich glaube schon.«
»Dann mußt du mir auch glauben, daß ich mir alles sehr genau überlegt habe und nur dein Bestes will. Du mußt Vertrauen zu mir haben.«
»Das habe ich auch — das weißt du doch.«
»Es wird nicht leicht für dich sein, das, was ich dir jetzt sagen will, in seiner ganzen Bedeutung zu begreifen. Auch mir fällt es schwer, darüber zu reden, weil mir viele von den Kindern hier sehr ans Herz gewachsen sind und mich sehr viel mit Gan Dafna verbindet. Karen — ich möchte dich mitnehmen nach Haus, nach Amerika.«
Karen sah Kitty fassungslos an. Im Augenblick begriff sie nicht, was sie gehört hatte, oder sie glaubte, nicht richtig verstanden zu haben.
»Nach Haus? Aber — mein Zuhause ist doch hier. Ich habe kein anderes Zuhause.«
»Ich möchte, daß dein Zuhause bei mir ist — immer.«
»Das möchte ich auch, Kitty — ich habe keinen größeren Wunsch. Ach, das ist alles so sonderbar.«
»Was denn, mein Liebes?«
»Wie du da eben sagtest: nach Hause, nach Amerika.«
»Aber ich bin nun einmal Amerikanerin, Karen. Das ist meine Heimat, und ich habe Sehnsucht nach ihr.«
Karen mußte sich auf die Lippen beißen, um nicht zu weinen. »Komisch, nicht wahr? Ich hatte gedacht, wir könnten immer so weiterleben, wie wir jetzt leben. Du wärest in Gan Dafna, und —.« »Und du beim Palmach — und dann in irgendeinem Kibbuz an der Grenze, nicht wahr?«
»Ja, ich glaube, so ungefähr hatte ich es mir vorgestellt.«
»Es gibt vieles hier, was ich schätzen und lieben gelernt habe. Doch dieses Land ist nicht meine Heimat, und die Menschen hier sind nicht meine Landsleute.«
»Ich bin wahrscheinlich sehr egoistisch gewesen«, sagte Karen. »Ich habe nie daran gedacht, daß du Heimweh bekommen oder irgend etwas für dich selbst wünschen könntest.«
»Das ist das netteste Kompliment, das mir jemals irgendein Mensch gemacht hat.«
Karen schenkte Tee ein und versuchte nachzudenken. Kitty bedeutete alles für sie — aber fortgehen, Palästina verlassen?
»Ich weiß nicht, Kitty, wie ich das erklären soll — aber die ganze Zeit, seit ich alt genug bin, Bücher zu lesen, schon in Dänemark, hat mich die Frage beschäftigt, was es eigentlich bedeutet, daß ich Jüdin bin. Ich weiß die Antwort auf diese Frage bis heute nicht. Ich weiß nur, daß ich hier irgend etwas habe, was mir gehört — etwas, was mir nie jemand nehmen kann. Ich weiß nicht genau, was das ist, aber es ist das Wichtigste, was es für mich überhaupt auf der Welt gibt. Vielleicht kann ich es eines Tages in Worte fassen — aber jedenfalls kann ich nicht aus Palästina fortgehen.« »Was immer dir gehört, wirst du auch in Amerika haben. Die Juden in Amerika — und, wie ich glaube, auch die Juden in allen anderen Ländern — haben das gleiche Gefühl der Zusammengehörigkeit, wie du es hast. Dadurch, daß du aus Palästina fortgehst, ändert sich daran nichts.«
»Aber diese anderen Juden leben im Exil.«
»Nein, Kind — begreifst du denn gar nicht, daß die Juden in Amerika dieses Land als ihre Heimat lieben?«
»Die Juden in Deutschland haben auch ihre deutsche Heimat geliebt.«
»Hör auf damit!« schrie Kitty plötzlich. »Wir Amerikaner sind nicht so, und ich mag von diesen Lügen nichts hören, mit denen man euch füttert!« Sie beherrschte sich rasch wieder. »In Amerika gibt es Juden, die ihre amerikanische Heimat so sehr lieben, daß sie lieber sterben würden, falls jemals das, was in Deutschland geschah, auch in Amerika geschehen sollte.« Sie trat hinter den Stuhl, auf dem Karen saß, und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Meinst du vielleicht, ich wüßte nicht, wie schwierig das für dich ist? Und glaubst du, ich wäre fähig, irgend etwas zu tun, das dir weh tut?« »Nein«, flüsterte Karen.
Kitty kniete sich vor Karens Stuhl auf den Boden und sah das Mädchen an. »Ach, Karen — du weißt ja überhaupt gar nicht, was Frieden ist. Du hast in deinem ganzen Leben noch nie die Möglichkeit gehabt, wirklich frei und ohne Furcht zu leben. Glaubst du, daß es hier besser wird? Daß es hier jemals besser werden könnte? Karen, ich wünsche mir, daß du nicht aufhörst, eine Jüdin zu sein und dieses Land hier zu lieben — doch es gibt noch andere Dinge, die ich mir auch für dich wünsche.«
Karen sah beiseite.
»Wenn du hierbleibst«, sagte Kitty, »wirst du dein ganzes Leben lang ein Gewehr tragen. Du wirst hart und zynisch werden, genau wie Ari und Jordana.«
»Wahrscheinlich war es falsch von mir, zu hoffen, du würdest immer hierbleiben.«
»Komm mit, Karen, komm mit mir nach Amerika. Gib uns beiden eine Chance. Wir brauchen einander. Wir haben beide genug gelitten.«
»Ich weiß nicht, ob ich aus diesem Land fortgehen kann«, sagte Karen mit bebender Stimme. »Ich weiß es nicht — ich weiß es einfach nicht.« »Ach, Karen — ich wünsche mir so sehr, dich in Reitstiefeln zu sehen und in Faltenröcken und mit dir in einem schnittigen Ford zu einem Fußballspiel zu fahren. Ich möchte hören, wie das Telefon klingelt und du dich kichernd mit einem deiner Verehrer unterhältst. Ich möchte, daß du all die reizenden und unwichtigen Dinge im Kopf hast, mit denen sich ein Mädchen in deinem Alter beschäftigt, anstatt ein Gewehr zu tragen oder Munition zu schmuggeln. Es gibt so vieles, was dir hier entgeht. Du sollst wenigstens einmal erleben, daß es all diese Dinge gibt, ehe du dich endgültig entscheidest. Bitte, Karen — bitte.«
Karens Gesicht war bleich. Sie stand auf und entfernte sich von Kitty. »Und was ist mit Dov?«
Kitty nahm Dovs Brief aus ihrer Tasche und gab ihn Karen. »Das da habe ich heute auf meinem Schreibtisch gefunden. Wie es dorthin gekommen ist, weiß ich nicht.«
Mrs. Fremont,
aus Gründen, die Ihnen bekannt sein dürften, gelangt dieser Brief auf einem besonderen Wege zu Ihnen. Ich habe zur Zeit sehr viel zu tun. Ich befinde mich bei guten Freunden. Es ist das erstemal seit langer Zeit, daß ich bei Freunden bin, und es sind wirklich gute Freunde. Nachdem ich hier jetzt eine feste Bleibe habe, möchte ich Ihnen gerne schreiben, um Ihnen zu sagen, wie froh ich bin, nicht mehr in Gan Dafna zu sein, wo mir alle Leute auf die Nerven gingen, auch Sie und Karen Clement! Ich schreibe diesen Brief, um Ihnen mitzuteilen, daß ich Karen Clement nicht mehr wiedersehen werde, da ich dazu viel zu beschäftigt bin, und weil ich mit Menschen zusammen bin, die wirklich meine Freunde sind. Ich möchte nicht, daß Karen Clement denkt, ich käme zurück, um mich um sie zu kümmern. Sie ist ja nichts als ein Kind. Ich habe hier eine richtige Frau, die so alt ist wie ich, und wir beide leben zusammen. Warum fahren Sie eigentlich nicht mit Karen Clement nach Amerika, denn hierher gehört sie ja doch nicht?
Dov Landau
Kitty nahm Karen den Brief aus der Hand und riß ihn in kleine Stücke. »Ich werde Dr. Liebermann sagen, daß ich von meinem Posten zurücktrete. Sobald wir hier alles geordnet haben, bestellen wir Schiffsplätze für die Überfahrt nach Amerika.«
»Ja, Kitty«, sagte Karen. »Ich komme mit.«
XIV.
Der Führungsstab der Makkabäer wechselte alle paar Wochen sein Hauptquartier. Nach der Ermordung Haven-Hursts hielten es Ben Mosche und Akiba für besser, für eine Weile aus Jerusalem zu verschwinden.
Da das Hauptquartier beständig verlegt werden mußte, bestand der Stab nur aus einem halben Dutzend Männer. Jetzt war die Situation so bedrohlich geworden, daß sich auch diese kleine Führungsgruppe aufteilte und nur vier davon nach Tel Aviv gingen. Diese vier waren Akiba und Ben Mosche, außerdem Nachum ben Ami, der Bruder von David ben Ami, und Dov Landau, der inzwischen als Kleiner Giora bekannt und berühmt geworden war. Durch seinen ungewöhnlichen Mut und die wertvollen Dienste, die er als hochqualifizierter Fachmann für Fälschungen leistete, war er in den obersten und innersten Führungskreis der Makkabäer aufgestiegen und der besondere Günstling von Akiba geworden.