Die beiden Brüder redeten leise miteinander. Dov wurde allmählich wieder ruhig. Mundek legte ihm den Arm um die Schulter, und gemeinsam gingen sie vom Hauptquartier zu dem Zimmer, in dem die Familie wohnte. Unterwegs sprach Mundek von dem Baby, das Ruth in wenigen Wochen erwartete, und wie wunderbar es für Dov sein würde, Onkel zu werden. Natürlich wären alle Mitglieder der Bauleute Tanten und Onkel von dem Baby, aber Dov werde ein richtiger Onkel sein. Innerhalb der Gruppe hatte es mehrere Eheschließungen gegeben, und es gab bereits drei Babys — drei neue Bauleute. Aber Ruths Baby werde das prächtigste von allen sein. Außerdem berichtete Mundek als große Neuigkeit, daß es den Bauleuten wieder gelungen war, ein Pferd zu organisieren, und es bald ein richtiges Festmahl geben werde. Allmählich hörte Dov zu zittern auf. Als sie sich dem Ende der Treppe näherten, sah Dov seinen Bruder Mundek lächelnd an und sagte ihm, er habe ihn sehr lieb.
Als sie aber die Tür zu ihrem Zimmer öffneten und das Gesicht von Rebekka sahen, begriffen sie augenblicklich, daß Schreckliches geschehen sein mußte. Mundek gelang es schließlich, seine Schwester dazu zu bringen, einigermaßen zusammenhängend zu berichten.
»Mutter und Ruth«, rief sie weinend. »Man hat sie aus der Fabrik herausgeholt. Ihre Arbeitskarten wurden ungültig gemacht, und man hat sie zum Umschlagplatz geschafft.«
Dov fuhr herum und wollte zur Tür. Mundek hielt ihn fest. Dov schrie und stieß mit den Füßen um sich.
»Dov — Dov! Wir können doch nichts dagegen tun!«
»Mama! Ich will zu Mama!«
»Dov! Dov! Wir können doch nicht zusehen, wie man sie wegbringt!«
Ruth, die im achten Monat war, machte den Gaskammern von Treblinka einen Strich durch die Rechnung. Sie starb bei der Geburt, und ihr Baby starb mit ihr, in einem Viehwagen, in den so viele Menschen gepreßt waren, daß es der Gebärenden nicht möglich war, sich hinzulegen.
Der Kommandant von Treblinka tobte vor Wut. Wieder einmal hatte es bei den Gaskammern eine technische Störung gegeben, und dabei war bereits ein neuer Güterzug mit Juden aus dem Warschauer Ghetto im Anrollen. Der Kommandierende SS-Brigadeführer war stolz darauf gewesen, daß Treblinka bisher gegenüber allen anderen Vernichtungslagern in Polen den Rekord gehalten hatte. Und jetzt meldeten ihm seine Techniker, daß es unmöglich war, die Anlage bis zur Ankunft des Zuges aus Warschau wieder betriebsfähig zu machen. Und was die Sache noch schlimmer machte: Himmler persönlich hatte sich zu einer Besichtigung angesagt.
So blieb ihm nichts anderes übrig, als sämtliche altmodischen, ausrangierten Gaswagen, die er in der Gegend auftreiben konnte, zu dem Nebengleis zu schicken, wo der Zug ankommen sollte. Normalerweise gingen in diese Gaswagen jeweils nur zwanzig Leute, doch das würde diesmal nicht reichen. Schließlich herrschte ja Notstand. Wenn man die Opfer aber zwang, die Hände über den Köpfen zu halten, gingen in jeden Wagen sechs bis acht Juden mehr hinein. Außerdem blieb dann zwischen den Köpfen und der Decke noch ein schmaler Zwischenraum, in dem man zusätzlich acht bis zehn Kinder unterbringen konnte.
Lea Landau war betäubt vom Schmerz um Ruths Tod, als der Zug in der Nähe von Treblinka hielt. Sie und dreißig andere wurden aus dem Viehwagen herausgeholt und von Wachmannschaften, die mit Peitschen und Knüppeln ausgerüstet waren und Hunde bei sich hatten, gezwungen, in einen der wartenden Gaswagen zu steigen und die Hände über die Köpfe zu halten. Als der Wagen so vollgestopft war, daß nichts mehr hineinging, wurden die eisernen Türen geschlossen. Der Wagen fuhr los, und innerhalb von Sekunden füllte sich der eiserne Käfig mit Kohlenstoffmonoxyd. Von den Insassen war keiner mehr am Leben, als die Wagen das Lager Treblinka erreichten und vor den Massengräbern hielten, wo die Leichen ausgeladen und den Toten die Goldzähne gezogen wurden. Um diesen Gewinn jedoch hatte Lea Landau die Deutschen betrogen; denn sie hatte sich ihre Goldzähne schon längst ziehen lassen, um Nahrungsmittel dafür einzutauschen.
Das Jahr 1942 näherte sich seinem Ende. Wieder einmal wurde es Winter, und die Razzien der Gestapo wurden immer häufiger. Sämtliche Bewohner des Ghettos zogen in die Keller um und nahmen alles mit, was wertvoll war. Die Keller wurden erweitert und verwandelten sich teilweise, wie bei den Bauleuten, in regelrechte Bunker. Es entstanden Dutzende und schließlich Hunderte solcher Bunker, und man trieb unterirdische Gänge durch die Erde, die die verschiedenen Bunker untereinander verbanden.
Die Razzien der Deutschen und der mit ihnen arbeitenden polnischen und litauischen Kommandos ergaben eine immer geringere Ausbeute für Treblinka. Die Deutschen wurden böse. Die Bunker waren so gut getarnt, daß es fast unmöglich war, sie zu finden. Schließlich begab sich der Kommandant von Warschau persönlich in das Ghetto, um mit dem Vorstand des Judenrates zu reden. Er war sehr böse und verlangte, daß die jüdische Gemeindeverwaltung die Deutschen bei der raschen Abwicklung des Umsiedlungsprogramms unterstützen sollte, indem sie die Feiglinge ermittelte, die sich vor »ehrlicher Arbeit« drückten. Seit mehr als drei Jahren hatte der Judenrat in einer üblen Klemme gesessen, hin-und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, Anordnungen der Deutschen auszuführen, und dem Versuch, die eigenen Leute zu retten. Kurz nach dem Besuch des Kommandanten und der Aufforderung zur Mitarbeit beging der Leiter des Judenrates Selbstmord.
Mundek und die Bauleute hatten die Aufgabe, die Verteidigung eines Abschnitts des Besenbinderviertels vorzubereiten. Dov verbrachte seine Zeit entweder im Kanal oder im Bunker, wo er Ausweise und Pässe fälschte. Er machte jetzt wöchentlich zweimal den Weg »unterhalb der Mauer« nach Warschau, und das bedeutete für ihn immerhin die Möglichkeit, sich zweimal in der Woche bei Wanda satt zu essen. Bei seinen Gängen aus dem Ghetto nach Warschau nahm er jetzt Leute mit, die zu alt oder aus anderen Gründen nicht imstande waren, zu kämpfen. Wenn er zurückkam, brachte er Waffen und Radioeinzelteile mit.
Im Lauf des Winters 1942/43 erreichte die Anzahl der Todesopfer ein erschreckendes Maß. Von den ursprünglich fünfhunderttausend Juden, die man in das Ghetto gebracht hatte, waren um die Jahreswende nur noch fünfzigtausend am Leben.
Eines Tages, um die Mitte des Januar, als es gerade wieder soweit war, daß Dov in den Kanal hinuntersteigen sollte, nahmen ihn Mundek und Rebekka beiseite.
»Man kommt in diesen Tagen gar nicht so recht dazu, einmal in Ruhe dazusitzen und miteinander zu reden«, sagte Mundek einleitend.
»Hör mal, Dov«, sagte Rebekka. »Wir haben uns alle darüber unterhalten, während du das letztemal in Warschau warst, und haben dann abgestimmt. Wir haben beschlossen, daß du auf der anderen Seite der Mauer bleiben sollst.«
»Habt ihr irgendeinen Sonderauftrag für mich?« fragte Dov.
»Nein — du verstehst uns nicht.«
»Was meint ihr denn?«
»Wir haben beschlossen«, sagte Rebekka, »daß ein paar von uns draußen bleiben sollen.«
Dov verstand noch immer nicht. Er wußte, daß ihn die Bauleute brauchten. Beim ganzen ZOB war keiner, der die verschiedenen Wege durch den Kanal so genau kannte wie er. Wenn der ZOB sich jetzt ernstlich auf die Verteidigung einrichten wollte, dann hatte er ihn doch noch nötiger als bisher. Außerdem war es durch die Ausweise und Reisepässe, die er gefälscht hatte, möglich gewesen, mehr als hundert Leute aus Polen herauszubekommen. Er sah seine Schwester und seinen Bruder fragend an.
Rebekka drückte ihm einen Briefumschlag in die Hand. »Da hast du Geld und Ausweise. Bleib so lange bei Wanda, bis sie eine Familie gefunden hat, die dich aufnimmt.« »Ihr habt gar nicht darüber abgestimmt. Das habt ihr beiden euch nur ausgedacht. Ich gehe nicht.«