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Um das Gesicht nicht ganz zu verlieren, gestatteten die Engländer dem letzten der drei Transportschiffe, der Magna Charta, die an Bord befindlichen Flüchtlinge in Zypern auszuladen, wo sie nach Caraolos gebracht wurden. Dov Landau hatte das Glück, seinen sechzehnten Geburtstag nicht in einem Lager in Deutschland, sondern in Caraolos zu verbringen; doch der Junge bestand nur noch aus Haß.

XXVIII.

Auch seinen siebzehnten Geburtstag erlebte Dov Landau im Lager und hinter Stacheldraht. Er verbrachte ihn genau wie alle Tage. Er lag auf seiner Koje, starrte ins Leere und sprach kein Wort. Er hatte mit keinem Menschen mehr gesprochen, seit man ihn mit Gewalt von Bord der Gelobtes Land heruntergeholt hatte. Während der langen Wochen im Hafen von Toulon war sein Haß immer bitterer geworden.

Hier in Caraolos hatten alle möglichen Leute, Palmach-Angehörige, Wohlfahrtspfleger, Ärzte und Lehrer versucht, durch die Wand seiner Verbitterung an ihn heranzukommen; doch Dov traute keinem und wollte niemanden in seiner Nähe haben. Tagsüber lag er schweigend auf seiner Koje. Nachts wehrte er sich dagegen, einzuschlafen, denn im Schlaf kamen stets die furchtbaren Träume. Er träumte immer wieder davon, wie sich die Türen der Gaskammern von Birkenau geöffnet hatten. Stundenlang konnte Dov dasitzen und auf die Nummer starren, die auf seinem linken Unterarm eintätowiert war: 359195.

Schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Zeltstraße, wohnte ein Mädchen. Es war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Das war auch weiter kein Wunder, denn dort, wo er bisher gelebt hatte, konnten die Frauen nicht schön sein. Sie arbeitete als Kindergärtnerin und betreute eine Menge kleinerer Kinder. Sie lächelte ihm jedesmal zu, wenn sie ihn sah, und sie schien gar nicht böse auf ihn zu sein, ihn nicht abzulehnen, wie es alle anderen taten. Dieses Mädchen hieß Karen Hansen-Clement.

Karen erkundigte sich, was mit Dov eigentlich los war und weshalb er nicht am Unterricht oder am Spiel teilnahm. Man warnte sie vor ihm und riet ihr, sich nicht mit ihm einzulassen. Er sei ein »hoffnungsloser Fall«, vielleicht sogar ein gefährlicher Bursche. Diese Warnung hatte auf Karen genau die gegenteilige Wirkung. Sie wußte, daß Dov in Auschwitz gewesen war, und sie hatte grenzenloses Mitleid mit ihm. Schon mehrfach war es ihr gelungen, das Vertrauen Jugendlicher zu gewinnen, mit denen andere nichts hatten anfangen können, und obwohl sie sich sagte, daß es vielleicht besser war, Dov in Ruhe zu lassen, begann sie sich doch immer mehr für ihn zu interessieren, je öfter sie zu seinem Zelt hinübersah.

Eines heißen Tages lag Dov wie üblich auf seiner Koje, starrte vor sich hin und schwitzte. Plötzlich fuhr er hoch. Er spürte, daß jemand zugegen war. Als er Karen vor sich stehen sah, erstarrte er.

»Ich wollte dich fragen, ob du mir deinen Wassereimer borgst«, sagte sie. »Meiner ist undicht, und der Wasserwagen wird gleich kommen.«

Dov starrte sie an und blinzelte nervös.

»Ich hatte dich gefragt, ob ich mir einmal deinen Wassereimer ausleihen darf.«

Dovs Antwort bestand in einem Knurren.

»Was soll das heißen—ja oder nein? Kannst du denn nicht reden?« Sie sahen sich an wie zwei Kampfhähne. Karen tat es schon leid, daß sie überhaupt gekommen war. Sie holte tief Luft. »Ich heiße Karen«, sagte sie. »Ich wohne schräg gegenüber.«

Dov sagte noch immer nichts. Er starrte sie nur schweigend an.

»Also — darf ich deinen Eimer nehmen oder nicht?«

»Was willst du eigentlich hier? Bist du auch hergekommen, um große Worte zu machen?«

»Nein«, sagte Karen, »ich bin hergekommen, weil ich mir deinen Eimer ausleihen wollte. Du bist wirklich niemand, über den man große Worte machen könnte.«

Er wandte sich ab, setzte sich auf die Kante seiner Koje und kaute an den Nägeln. Ihre Direktheit entwaffnete ihn. Er deutete mit der Hand auf den Wassereimer, der auf der Erde stand. Karen hob ihn auf. Dov warf ihr von der Seite einen kurzen Blick zu.

»Sag mal, wie heißt denn du? Ich wüßte gern, wie ich dich nennen soll, wenn ich dir den Eimer wiederbringe.«

Dov blieb stumm.

»Nun sag schon — na?«

»Dov!«

»Und ich heiße Karen. Vielleicht kannst du das nächstemal, wenn wir uns sehen, Tag, Karen, zu mir sagen. Das wär' doch schon was —, wenn du auch ein finsteres Gesicht dabei machst.«

Sehr langsam wandte er sich wieder zu ihr herum, doch sie war nicht mehr da. Er ging zum Ausgang des Zeltes und sah ihr nach, wie sie zu dem Wasserwagen ging, der eben vorbeigekommen war. Er fand sie sehr schön.

Es war das erstemal seit vielen Monaten, daß von außen irgend etwas an Dov Landau herangekommen war. Diese Karen war so ganz und gar anders als alle anderen, die mit ihm zu reden versuchten. Sie war kurz angebunden und schnippisch und ein bißchen scheu, gleichzeitig strahlte etwas von ihr aus, etwas Zärtliches. Sie hielt keine großen Reden, betete nicht irgend etwas her, was sie nicht meinte. Sie war genau wie er in Caraolos eingesperrt, doch sie beklagte sich nicht darüber und schien auch nicht verbittert zu sein wie all die anderen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, die aber auch sehr energisch sein konnte.

»Da hast du deinen Eimer wieder«, sagte Karen, »und vielen Dank auch. — Auf Wiedersehen, Dov.«

Dov brummte vor sich hin.

»Ach, richtig, du bist ja der, der nicht redet, sondern brummt. In meinem Kindergarten habe ich einen kleinen Jungen, der ist genauso. Allerdings behauptet er, er wäre ein Löwe.«

»Auf Wiedersehen!« brüllte Dov, so laut er konnte.

Die Tage verstrichen in der Gleichförmigkeit des Lagers, und doch war irgend etwas anders geworden. Dov war nach wie vor stumm, mürrisch und in sich gekehrt, aber immer häufiger kam es vor, daß er nicht an den Tod dachte und an seinen Haß. Er hörte die Stimmen der Kinder vom Spielplatz, und er hörte, wie Karen mit den Kindern sprach. Das erschien Dov ganz sonderbar. In der ganzen Zeit in Caraolos hatte er noch nie die Stimmen der spielenden Kinder gehört. Er hörte sie erst, seit er Karen kennengelernt hatte.

Eines Nachts stand Dov am Stacheldraht und sah zu, wie der Kegel des Scheinwerfers über die Reihen der Zelte glitt. Er stand oft nachts am Stacheldraht und sah den Scheinwerfern zu. Er hatte noch immer Angst vor dem Einschlafen. Auf dem Spielplatz hatte die Palmach-Gruppe ein Feuer gemacht, saß darum herum und sang und tanzte. Dov hatte diese Lieder früher auch einmal gesungen, bei den Zusammenkünften der Bauleute. Doch er mochte sie jetzt nicht mehr hören. Damals waren Mundek und Ruth und Rebekka dabeigewesen. »Hallo, Dov!«

Er fuhr herum und sah Karen in der Dunkelheit vor sich stehen. »Hast du keine Lust, zum Feuer mitzukommen?« fragte Karen. Sie kam näher an ihn heran, doch er wandte ihr den Rücken zu.

»Du magst mich doch, nicht wahr? Mit mir kannst du doch reden. Warum willst du nicht mitmachen, wenn wir zusammenkommen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Dov —«, sagte sie mit leiser Stimme.

Er fuhr herum und sah sie wütend an. »Armer Dov!« rief er. »Der arme Irre! Du bist genau wie alle anderen! Du redest bloß sanfter!« Dov griff nach ihr, legte die Hände um ihren Hals und drückte ihr die Kehle zu. »Laß mich in Ruhe — hörst du — laß mich in Ruhe!« Karen sah ihm fest in die Augen. »Nimm deine Hände von meinem Hals, augenblicklich.«

Er ließ die Arme sinken. »Ich wollte dir nichts tun«, sagte er. »Ich wollte dich nur erschrecken.«

»Erschreckt hast du mich nicht«, sagte sie und ging.

Eine Woche lang sah ihn Karen weder an, noch sprach sie mit ihm. Dov plagte die Unruhe. Es war ihm unmöglich, wie früher stundenlang dazuliegen und vor sich hinzustarren. Den ganzen Tag ging er ruhelos im Zelt auf und ab. Früher war er mit seinen Gedanken allein gewesen. Jetzt konnte er überhaupt nicht mehr denken!